Heinz-Willi Dahmen
1939 H-Willi Dahmen erblickt am 28. Juni
1939 als Sohn von Jakob Dahmen
und seiner Frau Elisabeth, geborene
Fischer, in Köln-Kalk das Licht der Welt.
Er wird im evangelischen Glauben erzo-
gen und auf den Namen Heinz-Willi
getauft.
Köln-Kalk ist ein zentrumsnaher, rechts-
rheinischer Stadtteil von Köln. Ein klas-
sisches Arbeitswohnviertel auf der dem
Kölner Dom gegenüberliegenden Rhein-
seite, geprägt durch mittelständische
Betriebe, viele Industriefirmen und
einige Großkonzerne (u.a. Klöckner-
Humbold-Deutz KHD). Man kennt und
hilft sich "em Veedel". Seine spezifische
Entwicklung als Industriestandort ver-
dankt Köln-Kalk der exponierten Lage
zwischen zwei großen Bahnstrecken,
die sich im "Eisenbahn-Knotenpunkt
Köln kreuzen.
Im Geburtsjahr von H-Willi Dahmen 1939 beginnt der 2. Weltkrieg. Der
Vorort Köln-Kalk zählt zu diesem Zeitpunkt erwa 30.000 Einwohner, über-
wiegend Handwerker und Industriearbeiter mit ihren Familien. Der Vater
Jakob Dahmen ist in Köln-Kalk als Installateur tätig.
Bereits zu Kriegsbeginn, also nur weni-
ge Wochen nach der Geburt seines
Sohnes, wird Jakob Dahmen zur Wehr-
macht eingezogen. Seine Mutter muss
den kleinen Willi in der Folgezeit mit
Unterstützung der Großmutter und
einer Tante weitgehend alleine groß-
ziehen.
Kriegsbedingt sind die Erinnerungen
von H-Willi an seinen Vater nur bruch-
stückhaft.
1945 Im Februar 1945, kurz vor Kriegsende,
fällt Jakob Dahmen in Rheine/West-
falen. H-Willi ist zu diesem Zeitpunkt
noch keine sechs Jahre alt. Er wird von
seiner Mutter, seiner Großmutter und
seiner Tante umsorgt.
Seine Kindheit und Jugendzeit verbringt
H-Willi Dahmen in der Wipper-
fürther Straße 57 in Köln-Kalk. Im
selben Haus wohnt auch die 1 Jahr
jüngere Irene Bernau, seine "Sand-
kastenliebe" und spätere Ehefrau.
Wer in der Familie oder in seinem direk-
ten Umfeld bei dem heranwachsenden
Jugendlichen das Faible für handfeste,
gestalterische Tätigkeiten weckte, sein
kreatives Talent erkannte, ihn prägte
und förderte, ist aktuell nicht über-
liefert.
Nach dem Ausbruch des 2. Weltkrieges
ändern sich die Lebensumstände der
Bevölkerung gravierend. Auch H-Willi
ist davon betroffen. Im Verlaufe des Krieges erlebt der Junge die zu-
nehmende Intensität der Luftalarme, die Verdunkelungsaktionen, die bange
Angst vor einem Bombentreffer während er mit seiner Mutter im Luftschutz-
bunker sitzt und schließlich die fast vollständige Zerstörung*) seines Stadt-
teils.
*) Zum Ende des Krieges sind 96% der Gebäude in Köln-Kalk zerbombt. Insgesamt
wurden mehr als 20 Fliegerangriffe durch englische und amerikanische Bomber auf
Ziele in Köln-Kalk geflogen. Der schwerste Angriff erfolgt in der Nacht vom 3. auf den
4. Juli 1943. Aufgrund der hohen Opferzahlen wird daraufhin behördlicherseits ange-
ordnet, die komplette Zivilbevölkerung von Köln-Kalk (bis auf die produktionsnotwen-
digen Industrie- und Zwangsarbeiter) in ländliche Gebiete zu evakuieren. So auch die
Familie Dahmen (Mutter, Großmutter und Tante). Sie kommen vorübergehend in Öster-
reich auf einem Bauernhof unter.
Nachkriegsjahre
1945 erobern die Amerikaner - von Aachen aus kommend - Köln und geben die
großflächig zerstörte Stadt nach der Kapitulation in die neu eingerichtete
Zonenverwaltung ihrer zunächst belgischen – dann britischen Aliierten ab.
Nach ihrer Rückkehr spürt die Familie Dahmen die Notsituation und die extreme
Mangelwirtschaft durch den verlorenen Krieg am eigenen Leibe. Es fehlt buch-
stäblich an allem. Man lebt - im wahrsten Sinne des Wortes - „von der Hand
in den Mund“.
H-Willi Dahmen lernt - zusammen mit anderen gleichaltrigen Jungen -
notgedrungen das „Maggeln“ auf den Schwarzmärkten sowie das „Fringsen“
von Kohle (= Kohlenklau) entlang den nur notdürftig instandgesetzten Bahn-
anlagen.*)
*) Der damalige Erzbischof von Köln, Kardinal Frings, erklärt kurzerhand das Ent-
wenden von Obst und Gemüse „aus Nachbars Garten oder dergleichen“ sowie das
Aufsammeln von „verlorengegangener“ Kohle entlang den Bahnstrecken - eben weil
dies aus purer Not geschieht - als primär lebenssichernde und somit „lässlicher“
Verstoss gegen das Gebot: „Du sollst nicht stehlen“. Laut Sonntagspredigt des Kölner
Erzbischofes „Zwar immer noch eine Sünde, aber eine „lässliche Sünde“!)
1946/7 wird H-Willi Dahmen in die evangelische Alberman-Volksschule*) in Köln-
Kalk eingeschult. Die Schule ist nur wenige Strassenzüge von der Wipperfürther
Straße - knapp 300 Meter - entfernt. Das Ruinengelände in der Umgebung wird
H-Willis bevorzugter Spielplatz "em Veedel".
*) Die evangelische Volksschule wechselt später die Trägerschaft und wird in eine
städtische Hauptschule ohne konfessionelle Bindung umgewandelt. Heute ist der
Lehrbetrieb der Albermann-Hauptschule "dauerhaft eingestellt".
1956 macht H-Willi Dahmen seinen Hauptschulabschluss und sieht sich
anschließend nach einer Lehrstelle um. Die Zeiten wenden sich nur langsam
zum Besseren. Das „deutsche Wirtschaftswunder“ unter Konrad Adenauer
und Ludwig Erhard beginnt für die meisten Einwohner Kölns aber erst
Mitte/Ende der 50-er Jahre.
Die Kölner Werkkunstschule – während der Nazi-Herrschaft zur „Kölner Meister-
schule“ herabgestuft - wird nach ihrem Wiederaufbau mit Unterstützung des
früheren Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer „reinstitutionalisiert“.
Eingangsvoraussetzung ist eine erfolgreiche dreitägige Aufnahmeprüfung,
ersatzweise die Empfehlung eines anerkannten Handwerksmeisters in einem
angewandt-künstlerischen Bereich.
Die Beratungsstelle des lokalen Arbeitsamtes vermittelt H-Willi Dahmen
an einen Handwerksbetrieb in der Kölner Moltkestraße zu Heinz Broich.
Heinz Broich hat sich auf Restaurierungsarbeiten, insbesondere auf die
Wiederherstellung und Ausbesserung von kriegsbedingt zerstörten Stuck-
arbeiten spezialisiert.
Daneben fertigt er Architekturmodelle als Präsentationsmodelle für Neu-
und Wiederaufbauprojekte an, die von öffentlichen, meist städtischen
Auftraggebern und den unabhängigen Kölner Kirchenverwaltungen nach
dem Krieg geplant und ausgeführt werden.
Nach einer kurzen Probezeit stellt Heinz Broich H-Willi Dahmen ein.
Er erkennt die Fähigkeiten seines jungen Mitarbeiters und nimmt ihn „unter
seine Fittiche“. Dazu gehört, dass er seinen Schützling an die Werkkunst-
schule Köln vermittelt, wo dieser unter Professor Otto Gerster (1907-1982)
eine künstlerische Grundausbildung durchläuft, um das Lehrfach "freie und
angewandte (Wand-) Malerei" zu studieren.
1958 Heinz Broich verstirbt plötzlich und H-Willi Dahmen sieht sich gezwungen,
sich einen neuen Arbeitgeber zu suchen. Er findet ihn mit dem Stein- und
Holzbildhauermeister Max Pohl, dessen Betrieb in unmittelbarer Nähe des
Friedhofs von Leverkusen-Schlebusch liegt.
Max Pohl wurde 1906 geboren, studierte von 1925-1931 in Köln, Hamburg
und Nürnberg angewandte (Bildhauer-)Kunst, siedelte 1946 nach Leverkusen
über und war im Kölner Kollegenkreis u.a. mit Ludwig Gies, Wolfgang Wallner
und Josef Jaeckel gut vernetzt. Alle drei waren nach dem Krieg in der wieder-
aufgebauten Kölner Werkkunstschule als Lehrkräfte tätig.
Max Pohl lehrt H-Willi Dahmen „von der Pike auf“ den Umgang mit dem
Werkstoff Stein. Neben dem „Brot- und Buttergeschäft“ (Entwurf und Anfer-
tigung von Friedhofsgrabmalen) erstellt Max Pohl auftragsbezogen auch plas-
tische Kunstwerke aus Stein, die unter anderem in Parkanlagen aufgestellt
werden. So auch die zwei Figurengruppen im Park der Villa Wuppermann, an
denen vermutlich auch Heinz-Willi Dahmen mitgewirkt hat (unbestätugt).
Max Pohl führt seinen Mitarbeiter systematisch an Entwurf und künstlerische
Gestaltung zeitgemäß-moderner Objekte der bildenden Kunst heran.
Sein Schützling zeigt ein profundes bildhauerisches Talent. Deshalb betraut
Meister Pohl H-Willi Dahmen mit der Ausführung eines modernen Stein-
reliefs. Den Auftrag zu diesem Relief erhielt er von dem in Leverkusen
ansässigen Maler und Plastiker Günter Ferdinand Ris (1928-2005).
Bei den Arbeitsbesprechungen treffen H-Willi Dahmen und der 11 Jahre
ältere Günter Ferdinand Ris (GFRis) erstmals aufeinander. Man lernt sich
kennen. Eine zweite Auftragsarbeit folgt: Nach Vorlage eines Gipsmodells
erstellt H-Willi Dahmen die Formschalen für einen massiven Bronzeguß,
der in seinem Beisein in der renommierten Düsseldorfer Bronzegiesserei
Schmäke abgegossen wird. Die „Freiraumplastik“ benannte Bronze war
von Günter Ferdinand Ris im Rahmen eines seiner ersten „Kunst-am-Bau-
Projekte“ für den Eingangsbereich einer Schule konzipiert worden.
Arbeiten von H-Willi Dahmen für Günter Ferdinand Ris
Günter Ferdinand Ris: "Freiraumplastik" links: vier Ansichten des Gipsmodells;
Vorlagengröße: 11,6 x 15,6 x 13,6 cm;
H-Willi Dahmen: Vergrößerung, Erstellung der Abgussform und Versäuberung der
schwarz brunierten Vollbronze; Abmasse 58 x 78 x 68 cm
1961 Nach seinem Ausstellungserfolg auf der documenta II von 1959 sucht Günter
Ferdinand Ris, der weitläufig über seine Mutter mit der Großindustriellen-Familie
Wuppermann verwandt ist, nach einem fähigen Atelierassistenten für sein
Künstleratelier in Leverkusen. Der Assistent soll in der Lage sein, seine Vor-
stellungen und Entwürfe - vornehmlich im plastisch-gestalterischen Bereich -
in konkrete künstlerische Objekte umzusetzen.
Die solide bildhauerische Ausbildung, gepaart mit den früheren Erfahrungen
im Modellbaubereich - prädestinieren H-Willi Dahmen für einen Einsatz
als Atelierassistent von Günter Ferdinand Ris. Man wird sich schnell handels-
einig.
Vertraglich wird eine auftrags- und aufwandsbezogene Grundvergütung auf
Stundensatzbasis vereinbart. H-Willi Dahmen stellt die Arbeiten, die er in
GFRis Auftrag in dessen Atelier in Leverkusen ausführt, seinem Arbeitgeber
nach dem jeweils angefallenen Stundenaufwand in Rechnung.
Experimentell kreiert er daneben erstmals auch ganz eigene bildhauerische
Übungsstücke an denen er die Anwendung alternativer Steinmetztechniken
erprobt und einübt.
Atelierassistenz
1962 Die Zusammenarbeit mit GFRis wird mit der Zeit immer intensiver. Das selb-
ständige Arbeiten mit Hammer und Meißel liegt Günter Ferdinand Ris, der an
den Kunstakademien in Karlsruhe und Düsseldorf „freie“ Malerei studiert hatte,
persönlich nicht so sehr. Sein Entwurfswerkzeuge zur Umsetzung seiner Ideen
sind vielmehr Zeichenstift, Pinsel und Papier sowie eine Gipskiste und ent.-
sprechendes Werkzeug zum Modellieren von Entwurfs- und Anschauungs-
modellen..
H-Willi Dahmen unterstützt seinen Arbeitgeber in dessen Atelier bei der hand-
werklich-bildhauerischen Herstellung seiner dreidimensional-plastischen
"Kugelobjekte“ (meist aus Marmor oder Beton) sowie bei der Herstellung und
Korrektur der Gipsformvorlagen für geplante neue Ris-Plastiken. Zudem obliegt
ihm die Nachbearbeitung, Glättung und Polierung der meist extern in einer
Bronzegießerei angefertigten Bronzen. Die Kunstobjekte aus Beton gießt
H-Willi Dahmen in der Regel im Atelier von GFRis selbst ab. .
(Marmor, Beton, Holz und Bronze waren bis dahin die bevorzugten Materialien
für GFRis-Kunstwerke).
bildhauerische Produktion/Realisation und Finishing: H-Willi Dahmen
1964 H-Willi Dahmen fertigt nach Entwürfen und Vorgaben von GFRis das
„Zweifigurige Denkmal“ aus Beton an, das dieser noch im gleichen Jahr an-
lässlich der documenta III in Kassel ausstellt.
Realisation H-Willi Dahmen: Weiß durchgefärbter Betonguß inkl. Nachbearbeitung
Die Plastik "Zweifigurige Denkmal" war nach dem Rücktransport von der dokumenta III lange Zeit unerkannt im Bauhof der Stadt Königwinter eingelagert. Sie ist heute im Städtischen (Skulpturen-) Park Leonhard in der Altstadt von Königswinter zu sehen.
Lekutherm
1966 H-Willi Dahmen lernt in GFRis Leverkusener Atelier die Besonderheiten
der faserverstärkten 2-Komponenten-Kunststoffverarbeitung kennen.
Der Leverkusener Chemiekonzern Bayer hatte gerade einen neuen Kunststoff
für Renovierungs- und Restaurierungszwecke mit deutlich reduziertem Form-
schwund gegenüber den bisher für diesen Zweck eingesetzten Kunststoffen
entwickelt und ihn unter dem Namen „Lekutherm“ auf den Markt gebracht.
Dieser formschwund-reduzierte Kunststoff eignet sich – wie beide schnell
feststellen – nicht nur für Restaurierungszwecke, sondern im besonderen
Maße auch als neues Material für zukünftige skulpturale Ris-Kunstwerke.
Nach Maßgabe seines Auftraggebers stellt H-Willi Dahmen in der Folgezeit
nahezu alle neuen Ris-Plastiken jener Zeit aus diesem Material her.
Arbeitsprozess der Lekutherm-Verarbeitung
Im ersten Schritt gilt es für H-Willi Dahmen, die jeweilige Gestaltungsidee von
Günter Ferdinand Ris, meist anhand von Skizzen und Vorzeichnungen, manch-
mal aber auch in Form eines Objektmodells (meist eine Gipsvorlage, die er von
Ris erhält oder zusammen mit ihm erstellt) zu erfassen.
Im nächsten Schritt müssen die produktionstechnisch notwendigen Teilungs-
ebenen sowie die späteren Fügungs- und Fixierpunkte der Objektteile ermittelt
werden.
Danach werden die entsprechenden Negativ-Formschalen gefertigt, auf
bzw. in denen das spätere Lekutherm-Material eingebracht werden soll.
Nach Maßgabe von GFRis müssen die einzelnen Negativ-Formschalen gege-
benenfalls noch korrigiert und den Vorstellungen des Künstlers angepasst
werden.
Erst danach wird der 2-Komponenten-Kunststoff angemischt und in bzw. auf
den Negativ-Formschalen ausgeformt. Dort härten die einzelnen Teile auch
aus,bis sie aus den Formschalen gelöst und als positive „Abdruck“-Formen
zu dem finalen Kunstobjekt zusammengefügt werden können.
Die Produktionsvorgänge erfordern ein hohes handwerkliches Geschick
sowie immense Erfahrung im Umgang mit dem neuen Kunststoffmaterial
und dem geringeren, aber immer noch vorhandenen Formschwund, der beim
Aushärten des Kunststoffes auftritt und zu Rissen und Maßungenauigkeiten
führen kann.
Besonders knifflig sind vor allem „Materialhinterschneidungen“ sowie „innen-
liegende Formflächen“, deren Ausführungsqualität sich in der Regel erst im
zusammengefügten Endzustand des jeweiligen Kunstwerkes offenbart.
Kontrolle und Nachbearbeitung
GFRis legt bei der Abnahme aller seinen plastischen Werken besonderen
Wert auf die geometisch-präzise Reinheit der Kantenformen sowie die
besondere Homogenität der Flächenverläufe. Hier darf kein Bruch, keine Delle,
keine „Oberflächenstörung“ und keine „Verunreinigung“ zu erkennen sein.
Alle konkav oder konvex geschwungenen Objektoberflächen müssen - wie sich
spätestens beim Drehen des Werkes im scharfen Auflicht am Schattenverlauf
zeigt – ansatzlos ineinander übergehen.
Überhaupt sollten möglichst auch keine materialspezifischen Eigenheiten
und erst recht kein, wie auch immer geartetes, Dekor das Gesamtbild stören.
Ris'che Plastiken sind stets kühl, präzise und glatt.
Naturgemäß bedarf es einer sehr intensiven Abstimmung zwischen dem
impulssetzend kreativen Künstler (GFRis) und seinem produktionstechnisch
ausführenden Assistenten (H-Willi Dahmen), um letztendlich ein wirklich
„makelloses“ Kunstobjekt - exakt nach der ursprünglichen Gestaltungsidee
ausgeformt - zu erhalten.
Die Arbeitsteilung der beiden im Atelier funktioniert sehr gut. Man hat sich über
die Jahre „aufeinander eingeschossen“. In der Regel fertigt H-Willi Dahmen
jeweils ein Exemplar des Lekutherm-Objektes an. Je nach Bedarf lassen sich
aber in den Formschalen Kleinauflagen mit bis zu acht Objekten realisieren.
Verschleißbedingt werden bei größeren Auflagen weitere Formschalen benötigt.
1968 Der Atelieranbau am Wohnhaus von
GFRis wird fertiggestellt. Knapp 10 Jahre
lang pendelt H-Willi Dahmen zwischen
seinem Wohnort in Köln-Kalk und seiner
"Arbeitsstelle" im Atelier von GFRis an der
Siegburger Straße in Oberpleis hin und
her. Dann erben die Dahmens ein älteres
Fachwerkhaus mit Garten in Oberpleis-
Frohnhardt, Sie bauen das Fachwerkhaus
in der Folgezeit nach ihren Vorstellungen
und Wünschen aus und richten es ent-
sprechend ein. 1978 zieht die Familie
Dahmen von Köln-Kalk nach Oberpleis um, das damit zum festen Lebens- und
Arbeitsort sowohl für GFRis wie auch für H-Willi Dahmen wird.
Künstlerische Entwicklung
1970 In H-Willi Dahmen „reift“ zunehmend der Wunsch, in Abgrenzung zu seiner
Tätigkeit in GFRis Atelier „eigene Kunst“ zu produzieren. Anders als sein Vor-
gesetzter im Atelier ist er aber nicht an einer Übernahme oder Adaption von
dessen Formensprache interessiert, die in der Regel zu elementar-kühlen,
mathematisch-präzisen und motivmäßig eher unbestimmbaren, vom Prinzip
her möglichst interpretations- und bedeutungsoffenen Objekten führt.
Briefbilder
H-Willi Dahmen entwickelt mit seinen „Briefbildern“ eine ganz eigene künst-
lerische Ausdrucksform. Dabei betritt der gelernte Bildhauer und Steinmetz
H-Willi Dahmen „neue Ufer“. Er nutzt seine vielfältigen, im Atelier von GFRis
erworbenen Kenntnisse in der Verarbeitung von Kunststoffen, um „geschichtete“
und dann neu „aufgebrochene“ Bildobjekte herzustellen. Der kreative Vorgang des
„Entdeckens“ und „Aufdeckens“ spielt für ihn dabei eine entscheidende Rolle.
H -Willi Dahmen: "Briefbilder"
links: oranger Brief auf einem Rahmen rechts: blassblauer Brief unter einem Rahmen
darunter: Detailausschnitt darunter: Detailausschnitt
(Zur Vergrößerung bitte auf die Abbildungen klicken)
Zitat:
"Meine „Briefbilder-Objekte“ falten sich wie Briefe auf und erzählen ihre Botschaft
auf und durch die verschiedenen Ebenen.“
„Ich will hinter die Dinge zu blicken, tiefer liegende Ebenen erkunden, Unsicht-
bares aufdecken und Neues, nie Dagewesenes finden. Für mich ist es das
Gefühl einer ganz persönlichen Freiheit, in das Material eintauchen zu können,
die Zweidimensionalität zu verlassen und ohne Vorsatz und ohne thematische
Vorbestimmung etwas auch für mich total Überraschendes entstehen und auf
mich einwirken zu lassen. Letztendlich tue ich das alles nur und ausschließlich
aus mir heraus. Das ist meine Form der künstlerischen Freiheit“.
Organisch-amorphe Objekte
H-Willi Dahmen sucht im Kern den genauen Gegensatz zu den mathematisch-
strengen, fast unterkühlt-sterilen Objekten von GFRis.
In bewußter Abgrenzung sucht er nach Formen, die direkte Assoziationen zu
menschlichen Innereien, zu Organen und amorph geformten Gliedern und
Körperteilen vermitteln. Statt einer neutralen, steril-weißen Farbgebung (wie
bei GFRis-Objekten) bevorzugt er bei seinen Skulpturen betonte anatomische
„Fleischfarben“: galliges Blau, blutiges Rot, fett-öliges Weiß, fauliges Grün,
erdiges Braun etc.
H-Willi Dahmen: Auswahl von organisch-amorphen Objekten
(Zur Vergrößerung bitte auf die Abbildung klicken)
Puppencollagen
Eine Besonderheit in H-Willi Dahmens Werk stellen seine Puppen-
collagen dar. Diese fast "experimentellen" Kompositionen wirken auf den
ersten Blick irgendwie befremdlich auf den Betrachter. Genau dieses Phäno-
men interessiert den Künstler. Er lotet die Bandbreite und Tiefe des erzeugten
physischen und psychischen Gefühles, ausgelöst durch die vermeintliche
Fremdartigkeit seiner Montagen, detailliert aus.
So experimentiert Heinz-Willi Dahmen mit "demontierten" Puppenteilen,
appliziert Puppenleiber und deren Torsoteile auf Bildträger und verbindet
„nackte“ Brust-, Arm-, Hand- und Bauchpartien mit „putigen“ Köpfen, Augen
und Haarteilen.
H-Willi Dahmen: Vorzeichnungen und Entwursskizzen für Puppencollagen
(Zur Vergrößerung bitte auf die Abbildungen klicken)
Puppen sind eigentlich künstliche Stellvertreterobjekte für Menschen. Sie
werden von Kindern geliebt, Sie werden „bespielt“, und häufig als eigene
Wesen emotional individualisiert. Kinderpuppen tragen in aller Regel eigene
Namen und so füllen Puppen als "Zwischenwesen" auf seltsame Art das
Beziehungsfeld zwischen echtem menschlichem Verhalten und „bespielter“
Künstlichkeit aus.
Sie sind einerseits unbelebte, neutrale Objekte und dienen andererseits -
soweit künstlerisch verfremdet - als durchaus furchteinflößende Fetische.
Götzenbilder, denen magische Kräfte und somit eine subjektiv empfundene
besondere transzendentale Bedeutung beigemessen wird.
H-Willi Dahmen: experimentelle Puppencollagen
Allen fein austarierten Kunstobjekten von H-Willi Dahmen ist zu eigen,
dass sie auf den ersten Blick zunächst eine gewisse intuitive Ablehnung,
Skepsis und Unbehagen bei einem Betrachter, respektive bei einer Betrachterin,
erzeugen.
Erst auf den zweiten Blick wird aus dem vermeintlich intuitiv Unschönen etwas
durch und durch Natürliches, etwas zutiefst menschlich-Organisches.
Aus intuitiver Ablehnung wird mit der Zeit faszinierende Anziehung.
Aus vermeintlich Unschönem wird ästhetisch Schönes.
Genau dieses psychische Hin und Her von Ablehnung und Zustimmung spricht
H-Willi Dahmen mit seinen Objekten an. Anders als GFRis, der nach einer
absoluten Formprägnanz, nach absoluter - weil auf's Wesentlichste reduzierten
Objektästhetik sucht, „tariert“ H-Willi Dahmen den mental-dynamischen
Prozess einer sich individuell im Bewußtsein der Betrachter verändernden
Objektästhetik bei jeder seiner Skulpturen fein säuberlich aus und findet in
aller Regel auch die Balance zwischen den beiden Polen Ablehnung und
Zustimmung.
Anerkennung
Natürlich stellt er seinem Arbeitgeber seine eigenen Werke und die damit
verbundenen künstlerischen Überlegungen vor. GFRis kommt in's Grübeln
und äußert schließlich: „Bisher hast Du bei mir gelernt. Nun lerne ich bei Dir“
Mit Freude, Genugtuung und durchaus auch Stolz darf Heinz-Willi Dahmen
konstatieren, dass GFRis ihn nun nicht mehr nur als seinen Assistenten,
sondern erstmals auch als vollwertigen Künstlerkollegen akzeptiert.
Günter Ferdinand Ris schlägt H-Willi Dahmen für den bundesdeutschen
„Villa Romana Preis“ in Florenz vor, nachdem er 1963 diesen international
renommierten Förderpreis für zeitgenössische Kunst selbst erhalten hat.
Künstlergruppe Bonn
1972 H-Willi Dahmens eigene Ausstellungstätigkeit beginnt als Gast auf dem
„Kunstmarkt '72“ in Bonn. Der jährliche Kunstmarkt Bonn ist eine Verkaufs-
veranstaltung, die unabhängig von kommerziellen Interessen Dritter (Kunst-
häuser, Kunsthändler, Museeen und Galerien), federführend von der Stadt
Bonn und der Bonner Künstlergruppe e.V als der ältesten Vertretung bilden-
der Künstler in Bonn organisiert und durchgeführt wird.
Den beteiligten Künstlern wird die Gelegenheit geboten, Kontakte mit dem
kunstaffinen Bonner Publikum zu machen, aktuell geschaffene Werke vor-
zustellen und diese bei Gefallen ohne Aufschläge direkt an Interessenten zu
verkaufen. Für viele Bonner Künstler eine gute Gelegenheit, sich einen Namen
zu machen und (im bescheidenem Maße) Geld mit ihrer Kunst zu verdienen.
1973 H-Willi Dahmen tritt offiziell der Künstlergruppe Bonn e.V. als Vollmitglied
bei. Er ist damit offiziell als „hauptberuflicher Vollkünstler“ registriert und
darf das sehr günstige, weil staatlicherseits bezuschusste Künstlersozialwerk
in Anspruch nehmen. Dies schließt auch die Möglichkeit ein, eine gesetzliche
Kranken- und Sozialversicherung zu Sonderditionen für sich und seine Frau
abschließen zu können.
In den beiden Folgejahren ist er an den Gruppenausstellungen der Künstler-
gruppe Bonn mit jeweils eigenen Werken vertreten.
skulptural-figurative Werke
H-Willi Dahmen: Auswahl skulptural-figurativer Werke
(Zur Vergrößerung bitte auf die Abbildungen klicken)
1975 H-Willi Dahmens Engagement als Mitarbeiter und Atelierassistent von
Günter Ferdinand Ris endet nach 16 Jahren intensiver Zusammenarbeit.
Zwei der (seltenen) Aufnahmen, die die beiden Künstler gemeinsam zeigen.
jeweils links im Bild: H-Willi Dahmen, rechts im Bild: Günter Ferdinand Ris
Wie sich herausstellt, kann H-Willi Dahmen zu diesem Zeitpunkt allerdings
nicht von seinen Einnahmen als hauptberuflicher Künstler alleine leben.
Notgedrungen tritt er aus der Bonner Künstlergruppe wieder aus. Er ist darauf
angewiesen, nun anderweitige Einnahmequellen für seinen Lebensunterhalt
zu erschließen und reduziert daraufhin seine künstlerischen Ambitionen, läßt
sie aber keineswegs ganz „schleifen".
Für die nächsten 13 Jahre unterhält er mit seiner Frau einen Obst- und
Gemüsestand in Oberpleis, wo sie täglich frische Produkte verkaufen, die
sie in der Regel frühmorgens auf dem Erzeuger-Großmarkt in Köln abholen.
Nonnenberger Hof
1988 Dem Ehepaar Dahmen bietet sich die Gelegenheit, das Dorfgasthaus
„Nonnenberger Hof“ zu übernehmen. In den Folgejahren erwirbt sich das Haus,
das nun als Restaurant geführt wird, zunächst im lokalen, dann auch im über-
regionalen Bereich bei seinen Gästen einen sehr guten Ruf. H-Willi Dahmen
als Chef hinter der Theke und seine Frau Irene als Chefin der Küche verstehen
es, aus dem Dorfgasthaus nach und nach ein „normalgebliebenes
Schlemmerlokal" zu machen, das für seine „handgemachte“ Küche zutreffend
im „Genussführer für Bonn und Umgebung“ gelobt wird. Irenes Kochkünste
werden hochgerühmt.
Was Wunder, kennen beide doch von Ihrer Tätigkeit auf dem ehemaligen
Frischobst- und Gemüsestand in Oberpleis die Bezugsquellen für die jahres-
zeitlich besten und frischesten Lebensmittel der gesamten Umgebung.
Die Qualität der von Irene Dahmen frisch
gekochten Tagesgerichte spricht sich
herum, der „Nonnenberger Hof“ gilt unter
„Eingeweihten“ alsbald als Geheimtipp.
und lockt neben Ausflüglern auch Promi-
nente aus der nahen Bundeshauptstadt
Bonn an. Der Publizist und Buchautor
Helmut Herles, damals Chefredakteur
des Bonner Generalanzeigers, schwärmt
von der vorzüglichen Küche und fährt
dann fort: „Hinzu kommt der einfühl-
same Service des Gastgebers, der
eigentlich Bildhauer und Steinmetz ist“.
Die Dahmens führen „ihren“ Nonnenberger Hof 20 Jahre lang, ehe sie 2008
gemeinsam in den Ruhestand gehen.
Tatsächlich findet H-Willi Dahmen,
unterstützt von seiner Ehefrau, in der
Zeit des Nonnenberger Hofes neben
seiner Rolle als aufmerksamer Gast-
geber die notwendige Muße und Ruhe,
sich ganz „seiner“ Kunst zu widmen.
Er wechselt sein Material, erkundet die
gestalterischen Möglichkeiten von
Eisen-, Stahl- und Aluminiumdraht.
Nicht eines einzelnen individuellen
Drahtelements, sondern hunderter,
ja tausender von Drähten!
H-Willi Dahmen bearbeitet jeden
einzelnen Draht manuell, dreht und wickelt ihn auf, bis regelrechte „Drahtlocken“
entstehen. Diese fügt er zu dreidimensionalen Objekten zusammen.
Drahtobjekte
Die manuelle Gestaltung solcher individueller Drahtobjekten hat eine fast thera-
peutische Wirkung, erweist sich sich doch als eine extrem zeitaufwändige Arbeit,
die wochen-, monate-, sogar jahrelang andauern kann und ein hohes Maß an
Konzentration erfordert. H-Willi Dahmen braucht dazu - wie er selbst sagt,
kein eigenes Künstleratelier. Mit stoischer Ruhe und Ausdauer kann er, wie
seine Frau es ausdrückt, "überall - zuhause und auch im eigenen Garten -
herumfrickeln“. Häufig begleitet durch dezente klassische Musik vertieft sich ihr
Mann fast kontemplativ in sein Arbeitsmaterial, stets darum bemüht, Bögen,
Windungen und Spiralen möglichst ohne Knickstellen*) aus Draht entstehen zu
lassen.
*) Anmerkung: Wer selbst schon mal mit Draht gearbeitet hat, weiß, dass man – so sehr
man sich auch bemüht – keine Knickstelle in Rundmaterialien mechanisch wieder rück-
gängig machen kann. Ist das innere Gefüge eines Drahtes durch einen Knick erst mal
verändert, spürt man diese Veränderung beim sensitiven Nachfühlen mit den Fingern
sofort. Ein echter Knick lässt sich, wenn überhaupt, so nur durch eine gezielte Wärme-
behandlung, rückstandslos entfernen.
H-Willi Dahmen: Auswahl von Drahtobjekten
(Zur Vergrößerung bitte auf die Abbildungen klicken)
Credo des Künstlers
Mag ein einzelner Draht – vergleichbar einem Menschen – als einzelnes Objekt
einem Individuum entsprechen, so wird das Vielfache davon (im Gesamten)
zur Masse. H-Willi Dahmen lässt aus seinen Drähten so etwas wie dreidimen-
sionale Wolken oder Nester entstehen. Jedes seiner so gestalteten Objekte ist
anders, ist ein individuelles, häufig durch die zufällige Anordnung der Einzel-
drähte entstandenes Unikat.
Und so wie es in der Natur auch keine zwei identischen Wolkenformationen gibt,
gibt es auf unserer Welt - eben wegen der Pluralität der Einzelindividuen - auch
keine völlig identischen Volksgruppen, kein vorbestimmtes Völkerschicksal und
keine individuell normierbaren Denk- und Verhaltensvorgaben. Dies gilt auch
und besonders für die Kunst. Unter der sichtbaren Oberfläche der Gegenstände
um uns herum, steckt nach Überzeugung des Künstlers in aller Regel einfach
mehr.
„Das ist wie ein Kleid, das den eigentlich nackten Körper verhüllt und bedeckt.
Man kann ihn schön oder häßlich finden. Aber dieser Körper lebt und verändert
sich ständig, da fließt und brodelt es im Untergrund“.
„Ich will die Oberfläche zur Seite schieben, sie durchstossen, will das, was
darunter liegt aufdecken und das, was vermeintlich im Dunklen liegt, an's Licht
zerren. Ohne Programm; ohne Vorsatz, einfach aus meinem inneren Drang
heraus. Darin liegt meine Aufgabe als Künstler, meine Freude und zugleich
meine Freiheit.“
Papier- und Kartonarbeiten
Selten entstehen H-Willi Dahmens Werke nur zufällig und spontan aus einer
aktuellen Gefühlslage heraus. Er ist im Kern kein impulsiver, rein von einem
übermächtigen inneren Gestaltungsdrang beherrschter Künstler. Im Vorfeld ist
er sich - wenn auch nicht der konkreten späteren Form - so doch zumindest
der Intention und beabsichtigten Wirkung seiner Werke durchaus bewußt.
Seine Objekte sind in aller Regel das Ergebnis eines dezidiert vorbereiten-
den gedanklichen Prozesses, dessen Ziel vorgegeben ist.
Mittels Vorskizzen und Zeichnungen konkretisieren sich seine Gedanken und
so sind viele seiner Papier- und Kartonarbeiten als experimentelle Vorberei-
tung von Skulpturen und Plastiken zu sehen, die dann erst später, wenn sie
gnügend ausgefeilt sind - realisiert werden.
Eigenständige Werkreihen
Daneben kreiert H-Willi Dahmen auch eine individuelle eigene Form von
künstlerischer "Flachware". Raffinierte, hochgradig artifizielle Papier- und
Kartonarbeiten, die ebenfalls seinem Credo folgen, Oberflächen zu über- winden, sie aufzuschneiden, darunterliegende Strukturen zu entdecken und
freizulegen. Es sind dies eigenständige - das Medium Papier und Karton
nutzende - Werke, die die flache zweidimensionale Ebene einer eigentlich
planaren Oberfläche manipulativ in eine dreidimensionale Objektebene
überführen. In der Regel entstehen keine solitären Einzelkunstwerke, son-
dern ganze - in sich abgeschlossene - Werkreihen.
Werkreihe "Skizzen und Vorzeichnungen"
Der Künstler H-Willi Dahmen ist auch zeichnerisch ein Meister seines Fachs.
Insbesondere seine Befähigung, nahezu jede Form von Falten, konvexen
und konkaven Hautpartien, Schwellungen, Wölbungen, Öffnungen und Ein-
schnürungen von organischen Körpern durch zeichnerische Schraffuren und
abgeschattete Übergänge miteinander zu verbinde, führt zu ungewöhnlichen
und daher zunächst sehr gewöhnungsbedürftigen organisch-amorphen
Körpern. Soweit genügend ausgearbeitet, setzt Dahmen diese Entwürfe in
Plastiken um.
Der Künstler H-Willi Dahmen ist auch zeichnerisch ein Meister seines Fachs.
Insbesondere seine Befähigung, nahezu jede Form von Falten, konvexen
und konkaven Hautpartien, Schwellungen, Wölbungen, Öffnungen und Ein-
schnürungen von organischen Körpern durch zeichnerische Schraffuren und
abgeschattete Übergänge miteinander zu verbinde, führt zu ungewöhnlichen
und daher zunächst sehr gewöhnungsbedürftigen organisch-amorphen
Körpern. Soweit genügend ausgearbeitet, setzt Dahmen diese Entwürfe in
Plastiken um.
Das provokante Spiel mit der Erkennbarkeit menschlicher und tierischer
Körperlichkeit (auch und besonders im Genitalbereich) fasziniert den
Künstler. Immer wieder erzeugen seine Darstellungen und Objekte im
Bewußtsein der Betrachter Assoziazionen und Imaginationen, die durch
ihre Faszination einerseits anziehend und durch ihre brutale Fremdartigkeit
andererseits auch wieder abstoßend wirken. Wie bei seinen organisch-
amorphen Plastiken spricht H-Willi Dahmen auch in seinen Zeichnungen
den mental-dynamischen Prozess einer sich veränderten Objektästhetik
gezielt an.
Werkreihe "Gärender Untergrund"
Offensichtlich brodelt es in diesen Bildern unter der Papieroberfläche. Die
Oberfläche spannt sich, hält aber noch. Sie wölbt sich auf - kleine Kamine
(Fumerole) lassen Dampf ab. Ein urgewaltiger Ausbruch, der alles zerreis-
sen wird, steht bevor. Im Verlauf der Eruption wird alles Innere nach außen
gekehrt.
Werkreihe "Verhüllung von Objekten"
Kissen und Laken decken normalerweise die darunterliegende Inhalte ab.
Sie "anonymisieren" Objekte, geben - wenn überhaupt - so nur die ver-
schleierten Konturen der unter Kissen und Laken versteckten Objekte preis.
Häufig lässt der Faltenwurf auf der Oberfläche von Kissen und Laken Rück-
schlüsse auf die Kontur und damit auf den darunterliegenden Inhalt zu. Die
bewußte, aktive Verhüllung von Objekten (a la Christo) ist insofern der
genau gegenteilige Kunstprozess zum Bemühen H-Willi Dahmens, "in die
Tiefe" zu gehen und Unbekanntes aufzudecken.
H-Willi Dahmen (obere Reihe): Bleistiftvorentwürfe für "leere" Kissenobjekte.
Die Konturen der darunter verdecken Objekte sind nicht erkennbar. Die
Verhüllung ist vollständig.
(untere Reihe): Der Künstler geht hier in die Tiefe, konkretisiert mögliche
Inhalte. Durch die per Filzstift colorierte "Füllung" der vorher leeren Kissen
werden mögliche Inhalte erfahrbar. So könnte z.B. links eine prall gefüllte
Ledertasche (oder ein Geldbeutel), rechts ein gedecktes Doppelbett darge-
stellt sein. Die komplette Verhüllung (wie in der oberen Reihe) wird zumin-
dest teilweise aufgehoben.
Werkreihe "Nadelbilder"
Das vielfach unregelmäßige "Durchstossen" einer Papieroberfläche mit
einer Nadel führt zu einer offenporig-pickligen "Papierhaut", die als
einzelnes Kunstwerk für sich genommen - sowohl das trennende wie auch
das verbindende Element zwischen der Innen- und der Außenwelt darstellt.
Die Unregelmäßigkeit des jeweils erzeugten Lochbildes läßt an Wolken
und kosmische Sternhaufen denken.
H-Willi Dahmen verstärkt diese Anmutung, indem er seine Blätter bewußt
mit einer nicht eindeutig abgrenzbaren Colorierung versieht, die an inter-
stellare Gasnebel in unserem Universum erinnert.
Werkreihe "Nadelbilder II"
Hier variiert H-Willi Dahmen seine Nadelbilder, indem er mittels dünner
Drähte Beziehungen zwischen einzelnen Eingangs- und Ausgangslöchern
auf seinen Blättern herstellt. Entfernt erinnert das an aktuelle medizi-
nische Experimente mit sogenannten "Biochips", die zukünftig bestimmte
neuronale Nervensteuerungen bei Menschen und Tieren substituieren
können.
Werkreihe "Vernähte Verletzungen"
Offensichtlich stellen die Blätter dieser Werkreihe den genau umgekehrten
Prozess des "Öffnens und in die Tiefe Gehens" dar. Hier werden Wunden
geschlossen und Hautoberflächen mit entsprechender Vernarbung wieder-
hergestellt. Intuitiv ist der Betrachter durch die Drastik der Bildmotive
zunächst abgeschreckt - und dennoch gleichzeitig fasziniert.
Werkreihe "Schichtobjekte"
In der Regel setzen sich die geschichteten Kunstobjekte dieser Werkreihe
von H-Willi Dahmen aus vier farbigen und in Teilen formgeschnittenen
Kartonpapieren zusammen. Die direkte Blattaufsicht weist in erster Linie
die grafisch-zweidimensionale Wechselwirkung der Wirkfaktoren Form und
Farbe aus. Erst in der schrägen Detailansicht (rechte Bildreihe) wird die
ausgeklügelte dreidimensionale Schichtung der Einzellagen und damit der
dritte Wirkfaktor der plastischen Gestalt "erahnbar".
Generell jedes künstlerische Objekt wird, sieht man von additiven
grafischen Dekorelementen einmal ab, durch die Wirkfaktoren Gestalt,
Form und Farbe definiert. Jedes Blatt aus H-Willi Dahmens Werkreihe
der geschichteten Objekte kann somit sowohl als "flache" Grafik ausge-
führt als auch als "Blaupause und Bauplan" für eine mehr oder minder
abstrakte dreidimensionale Skulptur verstanden werden.
H-Willi Dahmen: Komplexe Schichtobjekte als Baupläne für abstrakte dreidimen-
sionale Skulpturen.
Werkreihe "Farbnester"
Kontinuierlich -kreisende Handbewegungen mit hauchfein angespitzten
Farbbleistiften lassen mit der Zeit diese filigranen "Farbnester" auf den
Papierbögen entstehen. Die Linienführung scheint auf den ersten Blick
zunächst willkürlich zu sein - ist aber, wie die Zeichnungsverdichtungen
auf den Blättern zeigen, das Ergebnis eines langen , hochpräzisen und
bewußt gestalteten Kreativprozesses. Es geht dem Künstler hier nicht
um die Darstellung eines konkreten Motives , sondern um die Vermittlung
eines gefühlten Zustandes.
Ständige Aufmerksamkeit, viel Zeit, Geduld und Ausdauer wird dem
Künstler abverlangt, um solche hauchzarten Gebilde auf Papier zu
erschafen. Wer sich intensiver mit den Bildern beschäftigt, wird vielleicht
die suggestive Kraft verspüren, die einen Betrachter in ihren Bann
ziehen kann. Man glaubt, beispielsweise so etwas wie gegenläufige
Kräfte - Konzentration und Auseinanderfließen - in den Bildern zu
verspüren. In anderen verfestigt sich der Eindruck eines unkonturieren,
offensichtlich wabernd-schwebenden Objektes.
Werkreihe "plastisch geschnitene Papierarbeiten"
H-Willi Dahmen: ohne Titel, flache Konturschnitt-Papierarbeit in neutral weißer
Belichtung, motivisch entfernt an eine Ansammlung von Menschen
erinnernd. Rechts unten: gleiche Arbeit auf hellblauem Grund mit
unterschiedlicher seitlicher Ausleuchtung fotografiert.
H-Willi Dahmen: ohne Titel, flache Papierarbeit in weißem Streiflicht. Durch gezieltes
Benässen biegen sich die Schnittränder nach unten. Einzelne Furchen
klaffen auf. Unten links: gleiche Arbeit in Gesamtansicht. Unten rechts:
Detailausschnitt
Werkreihe "Das Phänomen der Stofflichkeit"
H-Willi Dahmen: ohne Titel - anatomische Reliefplastik, die bei Berührung der Ober-
fläche die Stofflichkeit von Hautfalten vermittelt.
Die Haptik, also wie sich ein Objekt bei Berührung
anfühlt, ist eine häufig unterschätzte, ästhetische Zusatzdimension, die jedem Gegenstand anhaftet. Dies trifft insbesondere auf dreidimensional-plas-tische Kunstobjekte zu, ist aber auch - vor allem durch die Materialwahl - bei flachen, zweidimensio-nalen Papier- und Kartonarbeiten wichtig. Insofern spielt die Stofflichkeit eines Objektes und die dieser Stofflichkeit unterstellten sensitiven Eigenschaften eine enorm große Rolle. H-Willi Dahmen gestaltet neben der Gestalt, Form und Farbe seiner Objekte auch bewußt deren sensitive Haptik.
H-Willi Dahmen: ohne Titel - Detailansicht der anatomischen Reliefplastik. Ein
externer Betrachter unterstellt unwillkürlich, in diesem Ausschnitt die
glatte, weiche Haut eines weiblichen Schoßes identifizieren zu können.
Es ist eine hohe Kunst, aus Papier und Pappe ein plastisches Objekt entstehen zu lassen, das in allen seinen Schichten aus Leder zu bestehen scheint. Das Material Leder kannte man schon in der frühen Urzeit. Einem in der Jagd erlegten Tier wurde das Fell abgezogen, die Haare abgeschabt, gereinigt und das übrig gebliebene Laken in einem Sud aus verschiedenen Baumrinden gegerbt. Das damit haltbar gemachte Material konnte zu Kleidung und zu Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs (Schuhe, Taschen, Gürtel etc.) weiterverarbeitet werden. Neben den Naturmaterialien Lehm und Stein ist Leder wohl das erste, vom Menschen gezielt eigenständig entwickelte Gebrauchsmaterial und insofern eine frühe Art von "synthetischem Kunststoff". Leder ist visuell an seiner Stofflichkeit und taktil an seiner spezifischen Haptik zu erkennen. Künstlerische Plastiken bestehen derzeit nur selten aus Leder. Weit häufiger bestehen sie aus Stein oder Metallen. Und so muss uns H-Willi Dahmen als gelernter Steinbildhauer durch seine Papier- und Kartonarbeiten darauf aufmerksam machen, dass das Urmaterial Leder nicht nur ein künstlicher Stoff sondern auch ein hochwertiges künstlerisches Gestaltungsmaterial sein kann.
H-Willi Dahmen: ohne Titel - Objekt aus blauem Filzstoff
Was auf den ersten Blick als ein "zerknüdelter Beutel" daherkommt, stellt
sich auf den zweiten Blick als eigenständiges Kunstwerk heraus. Möglicher-
weise diente ein Tinten-Löschblatt als Ausgangsmaterial für diese Plastik.
Löschblätter erhalten ihre tintenaufsaugende Eigenschaft durch die offen-
porige Verfilzung von Papierfasern. Verfilzte Materialien sind äußerlich matt
und können nur in bestimmtert Weise verformt werden. H-Willi Dahmen
reizt dies aus, formt aus dem Löschblatt so etwas wie einen kleinen Schlaf-
sack. Ein Objekt, das Schutz und Wärme verheißt und das aufgrund seines
Filzstoff-Materials Bezüge zu entsprechenden Arbeiten von seinem berühm-
ten Zeitgenossen Joseph Beuys herstellt, der als "Erneuerer" moderner
Plastik und ihrer Anwendungserweiterung auf gesellschaftlich-soziale Groß-
plastiken und Aktionskunst gilt.
Bruch mit Konventionen: "Das Spiel mit den Tabus"
Kunst ist apriori nichts Absolutes, sondern generell frei und individuell. Was
Kunst ist und was keine Kunst ist, entscheidet sich einzig und alleine im Kopf
eines Betrachters/in. Wissen und Erfahrung reifen dort im Laufe des Lebens
mit jedem zusätzlich erlebtem und verarbeitetem Sinneseindruck. Das führt
nach und nach zu individuellen Interpretationen der Umwelt im Kopf, die in
Form von Anmutungen die wichtigsten Voraussetzungen zur Entwicklung
eines modernen "Weltverständnisses" bilden. Auch das Empfinden von
Schönheit und Ästhetik basiert auf Anmutungen.
Negative, also innerlich bespielsweise aus religiös-kirchlichen, kulturell-
erzieherischen oder gesellschaftlich-sozialen Gründen abgelehte Anmutun-
gen führen zu entsprechenden Tabus und damit zum Verschweigen bzw.
zum Übergehen von Anmutungen. H-Willi Dahmen ist sich dieses Zusam-
menhangs bewußt und so versucht er, mit und durch seine Werke nicht nur
gestalterisch sondern auch im menschlich-mentalen Bereich "in die Tiefe zu
gehen", Oberflächen zu durchstoßen, Verstecktes aufzudecken und aus
Scham "Verschwiegenes" freizulegen. Er bricht gerne auf intelligente Weise
mit geschlechtlichen Darstellungstabus, ohne dabei aber ordinär zu werden.
H-Willi Dahmen: obere Reihe: "Vorhautfinger" (als Zeichnung und als Plastik);
mittlere Reihe: "Muttermund" und "Dickwanst";
untere Reihe: "Knackarsch" und "Schambereich"
H-Willi Dahmen: ohne Titel ("Anatomie eines Penis"), Objekt aus der Puppenserie
H-Willi Dahmen: ohne Titel - Mixed Media - blondes Küchenhaar auf einem Bogen
Küchenpapier
H-Willi Dahmen ist als gebürtiger Kölner ein Rheinländer. Dem
Rheinländer sagt masn - wohl bedingt durch die frühere französische
Besatzung des Rheinlandes - ein gewisses "Laissez-faire" nach.
Leise - mit einem verschmitztem Schmunzeln und einer fast die-
bischen Freude, damit eventuelles Tabus zu brechen, kommentierte
der Künstler die obige Papiercollage lapidar: "Nur jet zom föhle".
Schlussbetrachtung
H-Willi Dahmens Werke sind allesamt - im wahrsten Sinne des Wortes -
"tiefgründig" Tiefgründig, weil der Künstler stets nach etwas sucht, das
unter der Oberfläche, eben "in der Tiefe", verborgen liegt. Und so ist für
H-Willi Dahmens gesamtes eigenes Oeuvre die Suche und das geduldige
"Austarieren" einer speziellen Objektästhetik kennzeichnend, die sich auf
dem schmalen Grad zwischen emotionaler Ablehnung und Zustimmung
bewegt. Wer sich als Betrachter/in darauf einlässt, kann die faszinierende
Balance zwischen abstossender und anziehender Wirkung, die H-Willi
Dahmen in seinen Werken stets anstrebt, durchaus bereichernd nach-
empfinden.
Wer dem Künstler privat begegnet, wird einen nachdenklichen, beschei-
denen, zurückhaltend-unaufdringlichen und sehr liebenswürdigen
Menschen kennenlernen, der von einer inneren kreativen Flamme beseelt
ist, Neues und Überraschendes unter der zunächst profan und gewöhnlich
erscheinenden Oberfläche seines Umfeldes aufzudecken. Eine Fähigkeit
zur Neugier, die sich der Künstler sein Leben lang erhalten hat.
Sicherlich ist er auch einer der wenigen Künstler, die neben ihrer jahre-
langen Tätigkeit und der damit verbundene Prägung durch einen anderen
"starken" Künstler (GFRis) ihre innere Unabhängigkeit bewahren und ein
ganz eigenes künstlerisches Profil sowie eine eigene Handschrift entwickeln
konnte.
Man darf weiterhin gespannt sein.