Relief-Paneele (aus getriebenen Blechen)
Expertise zu Herkunft, Funktion und Alter
Sammlungsnummer Sammlungsnummer Sammlungsnummer
G9.3 2018.001 G9.3 2018.002 G9.3 2018.003
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Begrifflichkeit:
Ein Paneel (niederdeutsch und niederländisch für „Tafel“, englisch panel) ist im ursprünglichen Sinn eine Holztafel bzw. eine furnierte Platte für Wand- und Deckenverkleidungen. Dabei wird sowohl die einzelne Tafel als auch die gesamte Verkleidung als Paneel oder Paneele bezeich-net. Bereits im frühen Mittelalter wurden Wand-
paneele aus Holz zur Innenraumisolierung in Schlössern, Burgen und bewohnten Wehranla-
gen eingesetzt, um die Kälteausstrahlung der Mauern - vor allem bei länger andauernden widrigen Wetterbedingungen, im Winter sowie an kühlen Abend- und Nachtstunden zu ver-
hindern. Die Raumausstattungen des Adels-
standes, später auch des Klerus, spielten eine Vorreiterrolle. Im 17. und 18. Jahrhundert wur-
den dann auch in Bürgerhäusern die Raum-decken und Türen aufwändig durch massive Kassettenfeld-Konstruktionen zusätzlich isoliert. Insbesondere in den Empfangsräumen ging man dazu über, die Kassettenfelder durch ge-
schnitzte Motivtafeln, durch Wandreliefs sowie durch graphische Holzintarsienarbeiten zu ver-
schönern. Je nach gesellschaftlicher Stellung
und Reputation profilierte man sich durch eine
gesteigerte gestalterische Opulenz der Darstellungen. Die damals üblichen Bau-bücher der Architekten und Baumeister sowie der einschlägigen Kunsthandwerker-gilden verzeichneten detailliert bis zu zehn unterschiedliche Konstruktionsarten und Bauweisen, wie Holzpaneele aufgebaut und befestigt werden mußten, so dass klimatische Veränderungen und das dadurch ausgelöste Quellen, Austrocknen und Verziehen der Holzpaneele keine Rolle mehr spielte und relativ sicher ausgeglichen werden konnte.
Paneelmotive:
Paneele bestanden zunächst ausschließlich aus Holzplatten. Holz war im osteuro-päischen sowie im nord- und mitteleuropäischen Raum von Alters her das bevorzugte konstruktiv einsetzbare Baumaterial. Komplexe anwendungsorientierte Bearbeitungs- und Fügetechniken waren den Schreinern und Zimmerleuten schon früh bekannt und wurden in der Folge von Holzschnitzern und Bildhauern mehr und mehr zur dekora-tiven Ausgestaltung von Repräsentanzräumen und schließlich zu einer eigenen Kunstform (Skulptural-plastische Wohndekorationen) weiterentwickelt.
Auftraggeber waren der Adel mit seinen Schössern, Burgen und Stadtpalais sowie der Klerus (Kirchen- und Kapellenausstattungen) und später - mit zunehmender gesellschaftlicher Relevanz - auch das vermögende Großbürgertum und der "Geldadel": Großbauern, Kaufleute, Geldverleiher, Juristen, Gelehrte und Stadthonorationen beauftragten gerne spezialisierte Kunsthandwerker mit der Ausgestaltung Ihrer Kontore, Büros, Besprechungs- und repräsentativen Amtsräume. Nach und nach trat der physikalische Aspekt der Kälteschutzfunktion der Paneele in den Hintergrund. "Hast Du was, bist Du was". Man wollte zeigen, was man besaß und so wurde durch die Jahrhunderte das berufsständische Image und die persönliche Reputation von "Amtsinhabern" immer wichtiger. Vereinzelt ließen sich einzelne Personen auch - umgeben von den Insignien Ihrer Macht - in ihrer Amtstracht darstellen.
Nach Art der Dimensionalität von Paneelen unterscheidet man zwischen
(2D) Flachpaneele
Meist bemalte, bedruckte, gelackte, unterschiedlich furnierte und/oder mit
flach eingearbeiteten Intarsien (Permutt-, Leder-, Mosaik-Einlagen) ver-
sehene Holzpaneele. Insbesondere bei den Bemalungen konnten beliebig
freie Motive - ganz auf den jeweiligen Auftraggeber und seinen Lebensweg
zugeschnitten - umgesetzt werden.
Verschiedene Arten von Flachpaneelen: Wurzelholz (1+2), Sternfunier (3), Intarsie (4)
(2,5 D) Profilholz-, Leisten-, Glas- und Spiegelpaneele
Meist auf einen flachen Holzträger unter Verwendung von Aufsatzteilen aus
Holz, Stuck, Keramik, Bernstein, geschliffenen und verspiegelten Glasele-
menten sowie vergoldeten Zier-, Dekor- und Rahmenleisten erstellte
Wandverblendungen.
Häufige Motive: Wappen, Wappentiere, Innungszeichen, Blätter, Blüten,
Ranken, typische "Geschäftsutensilien" der Auftraggeber etc.
Paneele mit Aufsatzelementen: Bernsteinzimmer (1), Wappen (2) u. Wappenelemente
(3D) Szenarische Motivpaneele
Meist auf einem einzigen Tableau räumlich mit holzbildhauerischen Mitteln
ausgearbeitete religiöse Szenarien, antike Götter-Szenarien, Schlachten-
Szenarien, Interpretationen von Sagen und Legenden etc. Insbesondere
die 14 Kreuzwegstationen des Leidensweges von Jesus Christus sind ein
relativ häufiges Paneel-Motiv in katholischen Kirchen.
Relief-Paneele
Eine Sonderform der Szenarischen Motivpaneele stellen Relief-Paneele
aus dünnen, getriebenen Metallblechen, hinterfüttert und montiert auf Holz-
platten dar. Da sie nicht massiv aus Metall bestehen - aber oberflächlich
danach aussehen - wurden sie aus Gewichtsgründen häufig in beweglichen
Kassettentüren, in Eingangsportale und Pforten eingesetzt, um die Robust-
heit und Gediegenheit der jeweiligen Gebäude zu betonen. Motivmäßig wird
häufig ein Bezug zur Funktion des Raumes - zu dem die Tür führt - herge-
stellt. Oder es wird an das Leben einer mehr oder minder berühmten Per-
sönlichkeit erinnert, die in diesen oder ähnlichen Räumen "residiert" hat.
Relief-Paneele aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit besitzen im all-
gemeinen eine ausgeprägte - meist aus dem religiösen Bereich stammende
- Bild-Ikonografie und nehmen damit Bezug auf Wissen und Glauben der
damaligen Betrachter. Tatsächlich "transferierten" Bilddarstellungen im
Mittelalter weitaus mehr Bedeutungen, als heute "auf den ersten Blick"
erkenntlich ist.
Blech-Paneele als Ersatzmedium für den massiven Reliefguß
Vor und während kriegerischer Auseinander-
setzungen mangelte es häufig an "kriegs-
wichtigen" Metallen, die nunmehr zur Waffen-
produktion, respektive zur Herstellung stahl-
harter Legierungen, gebraucht und von den
entsprechenden Stellen requiriert wurden.
Für Bildhauer und plastische Künstler wurde
es in solchen Zeiten zunehmend schwieriger,
an geeignete Mengen von Metall-Gußmassen
für massive Skulpturen zu gelangen. Selbst
die Gestaltung von Ehren- und Gefallenen-
denkmälern hatte darunter zu leiden und
wurde gerne auf "bessere Zeiten" verscho-
ben. Einen Ausweg aus dem Dilemma boten
dünnwandige Bleche, die - sofern sie adäquat
bearbeitet - fügetechnisch möglichst unsicht-
bar miteinander verbunden und mit unedlen Materialen starr hinterfüttert
wurden - nach außen den Eindruck von massiven Gußstücken suggerierten.
Da die Bearbeitungs-, Füge- und Hinterfütterungstechniken von Blechen -
im Gegensatz zu künstlerischen Gußtechniken - für viele bildende Künstler
ungewohnt war, entstanden verhältnismäßig wenige wirklich hoch-
wertige Objekte. Meist blieben die Motivausführungen in zweidimensiona-
len, flächig - linearen Darstellungen "hängen".
Religiöse Motivwahl
Im nachfolgenden Beispiel (Sammlungsnummer G9.3 2018.003) wurde
offensichtlich eine alte Blechdose oder ein Blecheimer aufgeschnitten und
der Dosen- bzw. Eimermantel zu einer dünnen rechteckigen Fläche "flach-
geklopft". Auf dieser Fläche zeichnete der Künstler das Motiv mit Bleistift
oder Kreide auf und begann, mit Hammer und einem Stahlnagel die Um-
risslinien durch punktweises Nachschlagen "nachzuzeichnen". Das Motiv -
hier eine "Madonna auf der Mondsichel" - wurde frei nach den Vorlagen
einschlägiger Kupferstiche des berühmtesten deutschen Renaissance-
Künstlers Albrecht Dürer (AD) gestaltet. Druckabzüge solcher Kupfer-
stiche waren schon zu Dürers Lebzeiten recht beliebt. Sie wurden in der
Folgezeit gerne und häufig in Form häuslicher "Gebrauchskunst" kopiert
und im florierenden Devotionalienhandel des Spätmittelalters in unter-
schiedlichen Ausführungen angeboten.
Im deutschsprachigen Kulturraum waren übrigens Albrecht Dürers
"Betende Hände" besonders beliebt - ein Motiv, das vor allem im 19.
Jahrhundert zum meistreproduzierten christlichen Bildelement wurde und
seinerzeit fast in allen Gebets- und Schulbüchern zu finden war. In vielerlei
Ausführungen diente das Motiv als Eisen-, Messing-, Bronze- und Keramik-
Relief dem Grabschmuck und war auch im christlichen Alltagsleben als
Wandschmuck - in Schlafzimmern. Wohnstuben und Klassenräumen -
omnipräsent.
Die "betenden Hände" von Albrecht Dürer; links oben: Zeichnung in der Original-fassung (heute in der Albertina in Wien zu sehen), als Gebetsbuch-Reproduktion
(Druckausführung) sowie in verschiednen Reliefformen für den Wand- und Grab-schmuck. Unten rechts: Porzellan-Relief, Alka Kunst Bavaria, Sammlung: Michael
Hümmer, Sammlungsnr: G7.5 2018.053.
Motivpaneel: Dürers "Mondsichel-Madonna"
Sammlung: Michael Hümmer; Sammlungsnummer: G9.3 2018.003
links: Vorlage für das Blechrelief: "Madonna im Strahlenkranz auf der Mondsichel":
Albrecht Dürer (1471-1528) Abzug eines Original-Kupferstiches, (um 1510)
rechts: Albrecht Dürer: Kupferstich-Motiv-Variante, datiert 1514
Trotz intensiven Nachforschungen ist es bisher nicht gelungen, das Alter des
Blechpaneels eindeutig zu bestimmen. Vermutlich ist es erst im 20. Jahr-
hundert - möglicherweise während oder nach dem 1. Weltkrieg - entstan-
den. Eine dezidierte Signatur ist leider nicht zu erkennen, was angesichts
des von Albrecht Dürer übernommenem Ursprung-Motives und der wenig
professionellen Umsetzung auf Metallblech (siehe Ausführung des Jesus-
kindes auf dem Arm von Maria) darauf schließen läßt, dass es sich um die
Arbeit eines bildhauerrisch weniger erfahrenen Künstlers oder gar eines
künstlerischen Laien handelt. Mit hoher Sicherheit ist das Paneel aber ein
manuell hergestelltes Unikat, das in dieser Form nicht über den Devotio-
nalienhandel zu beziehen war, sondern als persönliches Geschenk weiter-
gegeben wurde. Offensichtlich hing es längere Zeit mit einer rückseitig
angebrachten Dreiecks-Öse an einer Wand.
Ein neuerer - bisher nicht bestätigter - Hinweis deutet darauf hin, dass das
Paneel von dem Bonner Maler Heinrich Houben stammen könnte. Von ihm
ist überliefert, dass er seinerzeit das Material von Blechdosen als Bildgrund
für eine experimentelle Form expressionistischer Ikonenmalerei benutzt
hat.
Möglicherweise im Auftrag seines Förderers Wilhelm Maucher - vielleicht
auch aus reinem Dank für dessen Unterstützung - wollte Heinrich Houben
wohl einen Beitrag zur Ausstattung heimischer Vorgebirgskapellen leisten.
Dies war dem lebenslustig-frommen "rheinischen Sozialrebell" Wilhelm
Maucher (näheres siehe Künstlerprofil Heinrich Houben) ein persönliches
Anliegen und könnte - sollte sich der Hinweis bestätigen, dass das Blech-
paneel tatsächlich einige Zeit in einer Kapelle in Bornheim/Merten ge-
hangen hat, auch erklären, warum es nach dem Abriss der Kapelle
im 2. Weltkrieg in die Hände einer rheinischen Obstbäuerin gelangt ist.
Nach deren Tod ist ein Teil des Nachlasses - vor allem die Möbelstücke -
verschrottet bzw. verbrannt worden; ein anderer Teil - darunter
wohl auch das Blechpaneel - fand sich dann später auf Flohmärkten wieder.
Einer der Vorbesitzer hat das Objekt offensichtlich relativ grob mit einer
Stahlbürste gereinigt. Es müßte aufgearbeitet und nachpoliert werden.
Zur Produktionsweise von Blechpaneelen
Kleinteilige Objekte - vor allem Schmuck und Ziergegenstände aus "edlen"
Gold- und Silberlegierungen - wurden seit alters her mit den klassisch-
tradierten Methoden der Gold- und Silberschmiedekunst hergestellt. Für
größerteilige Metallobjekte - beispielsweise Rüstungen und Harnische, aber
auch für hochbeanspruchte Haushaltsgeräte (Wasserkessel, Kannen, Koch-
töpfe etc.) - waren spezielle Schmiede zuständig. Sie "trieben" Bleche
aus "unedleren" Metalllegierungen mittels Hammer, Amboss und entspre-
chend vorgeformter Positiv- oder Negativschalen in die gewünschte
Form. Es war eine hohe handwerkliche Kunst und brauchte viel Erfahrung,
beispielsweise individuell körperangepasste Rundungen und Auskragungen
im Metall zu erzeugen (Waffenschmiede), ohne die Bleche - vor allem an
Knickstellen und Kanten - zu dünn auszuschlagen und damit ihrer Stabilität
zu berauben.
Demovideo (Dauer ca. 5 min)
Das obige YouTube-Video: "Metal Chasing/Repousse Art - Avedis: The Master At Work"
zeigt beispielhaft die Technik heutiger, künstlerischer Blechbearbeitung auf. Insbeson-
dere der Einsatz von wärmeelastischen Formmassen zur Erstellung von Positiv-/Nega-
tivschalen unterscheidet die heutigen Produktionsmethoden von den mittelalterlichen.
Damals benutzte man in der Regel sandgefüllte Ledersäckchen als Untergrund zum Aus-
treiben der Metallbleche. Zudem standen den Werkstattmeistern einzelne Formwannen
aus Eisen sowie auskragend gerundete Holzklötze (Schlagklötze) zur Verfügung. Eine
mehr oder minder umfangreiche Sammlung geschmiedeter "Standard-Dekorbänder"
ergänzte die Ausstattung der mittelalterlichen Werkstätten. Nur in Einzelfällen wurden
auch Bleiabgüsse von einzelnen Vorlagen als Positiv-Negativ-Schablonen angefertigt.
Die künstlerische Blechbearbeitung war in früher Zeit überwiegend eine Unikat-Produktion.
Wegen des relativ großen manuellen Aufwandes sind - wenn überhaupt - so in aller Regel
nur sehr kleine Serien aufgelegt worden. Die Individualfertigung hatte stets Vorrang.
Auch heute noch: So werden beispielsweise die Formteile von KFZ-Prototypen und Vorserienmodellen, aber auch Ersatzteile zur Restaurierung von "Oldtimern" durch auf-
wändiges manuelles Dengeln und Treiben von Blechen erzeugt. Bei Kleinserien werden
inzwischen allerdings zunehmend auch CNC-Werkzeugmaschinen (Drück-, Präge-,
Stanz-, Hammerschlag-, Biege- und Laser-Kontur-Schneidemaschinen) eingesetzt. Mit
dem Einsatz digitaler 3D "Kunststoff"-Drucker zeichnet sich - wenn auch aktuell noch
"in den Kinderschuhen" - ein neues Verfahren zur Produktion von dreidimensionalen
"Unikat-Objekten" (auch) im Bereich der bildenden Kunst ab.
Motivpaneel mit Christusdarstellung
Sammlung: Michael Hümmer; Sammlungsnummer: G9.3 2018.001
Das Messingblechpaneel ist sehr sorgfältig von einem offensichtsichtlich
in der Technik der dreidimensionalen Blechgestaltung sehr erfahrenen
"Kirchenkünstler" angefertigt worden. Es steht - produktionstechnisch ge-
sehen - an der Schnittstelle zwischen tradierter Gold- und Silberschmie-
dekunst und der frühneuzeitlichen Bechschmiede- und Denglerkunst. Eine
namentliche Kennzeichnung und Datierung der Blechpaneele durch den
ausführenden Künstler oder Kunsthandwerker ist unüblich. Insofern ist
der Name des Meisters, in dessen Werkstatt das Messingblechpaneel
(wohl) als Auftragsarbeit einer Kirchengemeinde oder eines Klosters an-
gefertigt wurde, nicht bekannt.
Im Streiflicht (von oben) und einer optisch verkürzenden Schrägansicht des Christus-kopfes (von unten) wird die für Blechpaneele ungewöhnlich differenzierte Ausformung selbst
kleinster Details (Barthaar, Haupthaar, 3D-Gesichtsausformung, Augen-/Nasenpartie, Verlauf des Wangenknochens etc.) gut sicht-
bar. Offensichtlich handelt es sich um die Ar-
beit eines erfahrenen Plastikers, der das Zu-
sammenspiel der Positiv- und Negativbearbei-tung von dünnen Blechen exzellent beherrsch-te und einer Portraitabbildung - im wahrsten Sinne des Wortes - "Profil" geben konnte. Rein vom handwerklichen Können betrachtet, sind nur wenige vergleichbar gut und differenziert gestaltete Profilreliefs aus Messing-Blech aus dieser Epoche bekannt. Sicherlich han-delt es sich bei diesem Christuskopf um eine Meisterarbeit.
Inschrift
Im umlaufenden Oval um den Christuskopf ist in lateinischer Sprache zu lesen:
"PRECIOSUS FORMA PRAE FILIIS HOMINUM" In freier Übersetzung bedeutet
dies: "(Du bist) Schön an Gestalt vor den (anderen) Menschenkindern." Diese Formulierung entspricht der Anfangszeile von Psalm 44,3 aus dem Hohelied der Vulgata. Mit Vulgata wird die im Mittelalter verbreitete lateinische Fassung der Bibel bezeichnet. Das Hohelied (Salomos) ist ein Teil der Vulgata und befasst sich mit der Liebe unter den Menschenkindern. Das Hohelied der Vulgata hat das Gottesbild der
Gläubigen, vor allem der mittelalterlichen Mystiker und Mystikerinnen über Jahrhun-derte hinweg bis in die Neuzeit geprägt: Ihm liegt die Vorstellung des Menschen-sohnes (Jesus Christus) als schöner, reiner und demütiger Sohn Gottes (Dreifaltig-keit) zugrunde.
Das Schönheitsideal der damaligen Zeit ent-wickelte sich ständig weiter und manifestierte sich in den zeitgenössischen Darstellung des Gottessohnes Jesus Christus im 17. und 18. Jahrhundert als ein junger, reifer Mann mit markanten Gesichtszügen, der zu wallendem, lockigen, schulterlangen Haar einen gepflegten Vollbart trägt. Dieses Jesusbild ist zweifellos stark von der Bild- und Darstellungswelt der italienischen Renaissance-Künstler wie Dona-tello, Botticelli, Leonardo da Vinci, Bramante, Raffael, Michelangelo und Tizian beeinflußt.
Selbst in der Kreuzesabnahme wird der ge-
schundene Leib Jesu noch "ästhetisch überhöht"
dargestellt. Maria Magdalena und die Klage-
weiber trauern "abgerückt" - inbrünstig verklärt. Ihre Gesichter sind ebenmäßig und ausgesprochen schön, tragen - dem damaligen Schönheitsempfinden entsprechend - "Botticellische" Züge. Wie stark die Darstellungsklischees der Renaissance-Künstler in das kirchliche Alltagsleben hineinwirkten, kann an den Produkten des spätmittel-alterlichen Devotionalienhandels abgelesen werden.
Motivpaneel mit Mariendarstellung
Sammlung: Michael Hümmer; Sammlungsnummer: G9.3 2018.002
Neben der Gottesverehrung in der Dreifaltigkeit: Gott Vater - Gott Sohn und Gott heiliger Geist spielte die Verehrung Marias als Mutter Gottes und als barmherzige Schutzheilige, Fürbitterin und Beschützerin vor drohendem Unheil und Plagen stets eine besondere Rolle im Glauben der Christen. Auf Maria fokussierten sich Wünsche
und Ängste der Gläubigen gleichermaßen. Sie war begreifbarer und somit auch an-
sprechbarer für das "gemeine Volk". Eine Art "Moderatorin" zwischen himmlicher Sphäre und menschlich-irdischer Unvollkommenheit, an die man sich mit seinen
Befürchtungen (Furcht vor Unglück, Missgeschick, Unbill, Krankheit, Seuchen, vor allem aber "vor Gottes Zorn") getrost wenden konnte. Insofern spielt die "Marien-
präsenz" (auch und insbesondere in bildlicher Form) zu allen Zeiten stets eine große Rolle im religiösen Bewußtsein der Menschen.
Offensichtlich stammt das obige Marienprofil aus der Hand desselben Künstlers, der auch das Jesusprofil (Sa-Nr.: G9.3 2018.001) angefertigt hat. Dafür spricht zum einen der identische Bildaufbau sowie die Verwendung gleicher Positiv-Negativ-Schablonen bei der
Rahmeneinfassung der Paneele. Zudem ist auch hier eine exzellente künstlerische Qualität in der Anlage und der Ausformung des Gesich-
tes von Maria erkennbar, die nur wenige Meister mit einer solchen Kunstfertigkeit im Handling und in der Ausführung der spezifi-schen Blechbearbeitungstungstechniken be- herrschten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden beide Paneele zur gleichen Zeit als Paar gefertigt. Die entgegengesetzte Blickrichtung der Portraitprofile läßt vermuten, dass das Marienprofil ursprünglich auf der rechten Seite und das Jesusprofil auf der linken Seite einer zweiflügeligen Tür oder eines entsprechenden, zweigeteilten Bildträgers eingesetzt war.
Aufgrund der Paneelabmaße handelt es dabei möglicherweise um eine Taber-nakeltür in einer Pfarrkirche oder einer Wallfahrtskapelle, hinter der die geweih-ten Hostien und die Altarsakramente aufbewahrt wurden.
Denkbar wäre aber auch die kunstvolle "Ausschmückung" einer besonderen zweiflügeligen Klostertür, die beispiels-weise zum Versammlungs-, Gebets-, oder Andachtsraum einer Abtei oder einer Ordensniederlassung führte und in aller Regel nur von Mönchen oder von Nonnen betreten werden durften.
Abbildung rechts: Beispiel einer moder-nen, mittengeteilten Tabernakeltür aus getriebenem Messingblech
Inschrift
Im umlaufenden Oval um den Kopf von Maria ist in lateinischer Sprache zu lesen:
"MACULA NON EST IN TE VIRGO MARIA" In freier Übersetzung bedeutet dies:
"Der Makel der Erbschuld ist nicht in Dir, Jungfrau Maria" Dies entspricht der Anfangszeile eines Gebetes aus dem Hohelied Salomos in der Vulgata. (Kapitel 4, Vers 7). Angesprochen wird die "unbefleckte Empfängnis" Marias, die nach dem Glauben des Mittelalters Voraussetzung für Jesus Christus als legitimer göttlicher Abkomme (Gott Sohn) von Gott Vater ist. Der offensichtliche Wiederspruch zwischen dem profan menschlichen Zeugungsakt und der göttlichen "Repräsentanz" ließ sich
nach der Mystik des Mittelalters nur durch eine allumfassende menschliche Erbschuld
erklären, der jeder Mensch - außer eben der Jungfrau Maria - seit dem Sündenfall und dem Ausschluß aus dem Paradies (= Garten Eden) unterliegt.
Maria ist in nahezu allen mittelalterlichen Abbildungen archetypisch als "züchtige" Nonne (= Braut Gottes) dargestellt. Über dem Untergewand (= Habit) trägt sie ein körperformverhüllendes Übergewand (= Kukulle), sowie ein Kopftuch (= Velan), das ihr Haar (Frisur, Farbe und Schnitt) komplett verhüllt.
Ein züchtiges, gottgefälliges Leben als Braut Jesu in einer abgeschlossenen Frauen-gemeinschaft zu führen, wird für viele Frauen zu einem "alternativen" Lebensziel im Mittelalter. Dementsprechend schießen in dieser Zeit neue Orden und Klöster wie Pilze aus dem Boden. In unterschiedlicher Ausprägung werden von den Nonnen soziale, pflegerische und erziehende Aufgaben übernommen und teilweise mit ausgeprägtem missionarisch-sendungsbewußtem Eifer in der Öffentlichkeit
vertreten.
Der 30-jährige Krieg: Historisch-politische und religiöse Rahmenbedingungen zwischen 1618 u.1648
Vor rund 400 Jahren begann mit dem "Prager Fenstersturz" ein historisches und gesellschaftliches Drama, das tiefgreifende Veränderungen in den politischen und religiösen Strukturen des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" auslöste. Letztendlich begann damit ein religiös verbrämter feudalistischer Stellvertreterkrieg im Spannungsfeld der Reformation und Gegenreformation zwischen den rivalisie-renden mitteleuropäischen Großmächten und Herrschaftshäusern.
Am 23. Mai 1618 wurden drei hohe Vertreter der damaligen kaiserlich-katholischen Obrigkeit (Habsburger Dynastie) in Prag aus einem Fenster des (protestantischen) Prager Königspalastes (böhmisches Herrscherhaus) gestürzt. Der gezielte Affront
löste in der Folge heftige kriegerische Steitigkeiten und Schlachten zwischen dem deutschen Kaiserhaus, Königen, Reichsfürsten und deren wechselnden miltärischen und religiösen Verbündeten aus. In vier Teilkriegen (1618-1623 Böhmisch-Pfälzischer Krieg; 1625-1629 Dänisch-Niedersächsischer Krieg; 1630-1635 Schwedischer Krieg und 1635-1643 Französisch-Schwedischer Krieg) zogen "reguläre" Truppen, Söldner-truppen, marodierende Kampfverbände, private Schutz- und Wehrgruppen unter den
kaiserlichen "Warlords" Johann von Tilly und Albrecht von Wallenstein durch's Land, um den Einflussbereich und die Besitzansprüche des deutschen Kaisers Ferdinand II in blutigen Auseinandersetzungen, Feldzügen und Belagerungen zu sichern. Mehrfach wurden die "Gewichte" zwischen den rivalisierenden Machthabern und ihren Heeren verschoben. Je nach Schlachterfolg erließ der Kaiser Restitutionsedikte zur Wieder-herstellung der alten Macht- und Glaubensgefüge und ließ sie mit Waffengewalt in
der Bevölkerung durchsetzen. Drehte sich die militärische Lage wieder, mußte
der Kaiser die "Restitution" zurücknehmen. Dann hatten die Protestanten und die
Reformierten in den jeweiligen deutschen Landen wieder das Sagen und setzten ihrerseites mit Gewalt ihren Glauben durch. Mit zunehmender Länge des Krieges verwischen sich die Interessen der jeweiligen Lager. Neue politische Koalitionen und
Zweckverbünde bildeten sich - unabhängig von der religiösen Präferenz der jeweiligen Partner. So kämpften zuletzt die Söldnerheere der (katholischen) Franzosen Seite an Seite mit den Söldnerheeren der (protestantischen) Schweden gegen den deutschen Kaiser. Mindestens 6 Millionen (von damals insgesamt rund 18 Millionen) Einwohnern des "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" wurden im Verlaufe des Krieges getötet oder verstarben an den unmittelbaren Folgen des Krieges.
Brutale Kriegsgewalt in weitgehend rechtfreiem Raum
Insbesondere die mit- und gegeneinander kämpfenden Söldnerheere wüteten mit unsagbarer Gewalt in der Bevölkerung, da ihnen mehr oder minder stillschweigend durch die Reichsfürsten zugestanden war, sich ihren Lohn als Ersatz für die fehlen-den, zum Teil sogar komplett ausfallenden Soldzahlungen bei der jeweiligen Zivil-bevölkerung in den von ihnen eroberten Gebieten zu sichern. Plünderungen, Raub, Mord, Brandschatzungen, Sklaverei, Leibeigenschaft und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die Greueltaten blieben in den eroberten - respektive rück-
eroberten - Gebieten in aller Regel ungesühnt.
Hungersnöte
Bedingt durch Missernten fehlten zudem Lebensmittel. Eine Kältewelle mit mehrjährig verfrühten Wintereinbrüchen, häufigen Unwettern, Stürmen, Schnee-Chaos, Eis- und Hagelschlag sowie Hochwasser und großflächige Überschwemmungen der Flüsse machten die Handelswege monatelang unpassierbar. Die Bevölkerung in Dörfern
und Städten hungerte und konnte die extrem angestiegenen Lebensmittelpreise,
die von den adligen Grundherren, den Großbauern und Händlern gefordert wurden, nicht mehr bezahlen. Um "duchzukommen", blieb Vielen nichts anderes übrig, als
sich gegen freie Kost und Logis als Leibeigene auf den Gütern der Reichen zu ver-dingen. Das Gefälle zwischen Arm und Reich, zwischen oben und unten öffnete sich weiter. Es "schwärte" in der Bevölkerung.
Hexenverfolgungen
Die ganze Misere, Hungersnöte, Seuchen und Plagen mußte doch jemand schuld sein! Man suchte nach Schuldigen und die waren schnell gefunden: Der leibhaftige Teufel, der Satan, der Anti-Christ und ihre Helfeshelfer, darunter vor allem die bösen Zauberer und Hexen wurden für das Elend verantwortlich gemacht. Sie waren es, die durch ihren "Schadenszauber" das Unheil heraufbeschworen hatten. Dafür mußten sie brennen!
Unterstützt durch den Klerus wurden Inquisitionen und Hexenverfolgungen durch-geführt und tatsächlich erreichten Hexenprozesse und Hexenverbrennungen während des 30-jährigen Krieges in Deutschland einen unrühmlichen Höhepunkt.
Gottesstrafen und Heiligenverehrung
Die eher Bedächtigen in der Bürgerschaft - meist waren dies die in Ständen und Gilden organisierte Handwerker, Händler oder Angehörige der Freien Berufe, wurden
eigeninitativer. Sie gaben weniger obskuren Hexenmeistern die Schuld an den Verhältnissen, sondern vermuteten Gottesstrafen hinter den Ereignissen. Man musste
- so die allgemeine Einstellung - den Zorn Gottes besänftigen, in dem man regelmäßig in die Kirche ging, sich von seinen früheren Sünden "freikaufte" und ein "gottgefälligeres Leben" führte. Dazu gehörte, dass man viel und regelmäßig betete und aus innigstem Gottesglauben heraus versprach, zur Abwehr konkreter Gefahren Wallfahrten und Pilgerreisen zu den Erscheinungs- und Wirkungsstätten einschlägiger, christlicher Märtyrer und Heiliger zu unternehmen. Vor Ort bat man die Heiligen zunächst um Hilfe und Beistand. Später bedankte man sich im "Erfolgsfall" anläßlich einer weiteren Pilgerreise für die glücklich überwundene Notlage. Daraus entstand nach und nach eine regelrechte Massenbewegung - eine frühe Form von "Kirchen-Tourismus".
Schon früh erkannte die Kirchenoberen die nicht unerhebliche wirtschaftliche Be-deutung von Pilgerreisen und Wallfahrten. Nach dem Ende des 30-jährigen Krieges, der nach vierjähriger Verhandlung zwischen 109 Delegationen aus 16 Staaten in Münster und Osnabrück verhandelt und 1648 als "Westfälischer Friede" gemeinsam verkündet wird, lebten ganze "Industriezweige" - finanziert von der Kirche - von der Herstellung sogenannter Pilgeranhängern. Traditionell wurden die ersten Anhänger im Mittelalter noch von Mönchen - jeweils in kleinen Stückzahlen zum Andenken an einen Klosterbesuch für die Gläubigen hergestellt und verkauft. Die Tradition ent-wickelte sich weiter. Handwerksbetriebe - meist aus dem Raum Elsass-Lothringen übernahmen im 17. und 18. Jahrhundert die Anhänger-Produktion und verkauften die "heilige Ware" an fliegende Händler, die sie dann in unterschiedlichen Ausführungen - je nach Anlass als Heiligen-Medaillen, Wallfahrtsmedaillen, Gedenkmedaillen, häusliche Schutzmünzen und Patronatsmünzen in größeren Stückzahlen gegen Entgelt "unters Volk" brachten. Die Kirche verdiente daran ebenfalls. Sie legitimierte die "Heilige Ware" durch Segnungen. Natürlich wurden die Anhänger, Medaillen und Münzen von den Gläubigen aufbewahrt, gesammelt und innerfamiliär über Generationen hinweg in Form eines stetig anwachsenden "Haus- oder Familienschatzes" weitergegeben. Jeder Nachkomme bekam den Hausschatz zu sehen und erfuhr durch Erzählungen den Hintergrund der jeweiligen Objekte. Als der Markt der Devotionalien-Produkte zu Anfang des 19. Jahrhunderts zunächst durch spezialisierte "Devotionalien-Fabriken" und später - im Zuge des wirtschaftlich-technischen Aufschwungs durch maschinelle Massenproduktionsverfahren immer größer und "umsatzträchtiger" wurde, verlor sich der ideele Wert der "heiligen Ware" mehr und mehr. Was vorher noch hochverehrte Glaubensobjekte waren, wurde im Zuge einer zunehmenden Säkularisierung zum "billigen" Kitsch". Das hatte Folgen: Der jahrzehnte-, manchmal sogar jahrhundertelang angesammelte "Familien-Hausschatz" wurde zunehmend wertloser, häufig beiseite geräumt oder achtlos aufgelöst und nur noch selten - wie zuvor - von Generation zu Generation weitervererbt.
Gestaltungsvorlagen
Wallfahrtsmedaillen und Pilgeranhänger
Einer sehr aufmerksamen TK-Besucherin - Frau Annette Schwarzig - aus Stuttgart fiel die hohe Ähnlichkeit der Messingrelief-Motive mit einer "Wallfahrtsmedaille" auf, die sich "seit Menschengedenken" im Besitz ihrer Familie befindet. Solche Medaillen
- so schrieb sie mir - wurden im Spätmittelalter - wie auch in der frühen Neuzeit "üblicherweise zur Finanzierung von Wallfahrten und Pilgerprozessionen verkauft".
Nach den Recherchen von Frau Schwarzig stammt ihre Medaille von der ersten
"Schallfelder Wallfahrt nach Dettelbach". Sie datierte diese Wallfahrt - entsprechend einer überlieferten Kirchenbuch-Eintragung - auf das Jahr 1652. Eine Ihrer Vorfahren hat die aus Metall geprägte Medaille - so die Überlieferung im Familienkreis - während dieser Wallfahrt an einer dünnen Kette getragen und später, zusammen mit ihrem Erbschmuck sorgsam aufbewahrt.
Frau Schwarzig vermutet, dass diese Wallfahrtsmedaille höchstwahrscheinlich in
einer Giesserei-Manufaktur im nahen Elsass hergestellt wurde. Nahezu identische Medaillen wurden schon einige Jahre früher unter anderem bei Marienwallfahrten über die Wallfahrtskirche "Unsere Liebe Frau von Thierenbach" sowie über das Kloster Marienthal (beide im Elsass) angeboten. Möglicherweise haben fliegende Händler dort bereits zwischen 1625 und 1630 eine größere Position dieser Medaillen "für den Export" geordert und diese dann später anläßlich der "Schallfelder Wallfahrt nach Dettelbach" in Unterfranken an die Gläubigen verkauft. Die Wallfahrt wurde vom Zisterzienser-Kloster in Schallfeld (heute Ortsteil von Lülsfeld im Landkreis Schweinfurt) organisiert und betreut. Sie führte zur Wallfahrtskirche "Maria im Sand" nach Dettelbach (Landkreis Kitzingen, nahe Würzburg).
Der obige Pilgeranhänger mit den Abmaßen 4,3 x 3 cm (h x b) wurde in einer Mauernische unter einem Deckstein in einer Grabkammer der 1678 eingeweihten Karmeliter-Kapelle von Rennes (Frankreich) bei Ausgrabungsarbeiten im Jahr 1889 gefunden. Der Anhänger ist heute - neben anderen Fundstücken - in der Sammlung des "Musee de Bretagne" in Rennes zu sehen.
Wie die Beispiele der verschiedenen Pilgeranhängern und Wallfahrtsmedaillen aus der 1. Hälfte des 17. Jahrundert (1600 - 1650) nahelegen, war das Bildmotiv (Por-traits von Jesus Christus und der Gottesmutter Maria in Profilansicht) den Gläubigen zum damaligen Zeitpunkt durchaus bekannt und geläufig. Auch ohne die lateinisch gefassten Texte im einzelnen entschlüsseln zu können, wußte man damals sofort, um wen es sich bei den Abbildungen handelte. Aus dem Jahr 1628 stammt nachweislich die "handtellergroße" vergoldete Bronzeplakette, die als doppelseitige Prunkmedaille von einem Skulpteur namens P. Goret aus Flandern geschaffen wurde. Eine zweite noch größere Fassung dieser Rundplakette befindet sich heute im "Los Angeles Country Museum of Arts". Sie ist im Gegensatz zu der kleineren vergoldeten Plakette im Randbereich mit dem Namen des Künstlers versehen und gesondert datiert. Der Vorname (P. steht möglicherweise für Pieter) und die weiteren Lebensdaten von
P(ieter) Goret sind allerdings nicht weiter bekannt. Er soll (nach nicht weiter bestätigten Angaben) im Gefolge eines flandrischen Baumeisters als Skulpteur beim Innenausbau eines Klosters im Darmstädter Raum beschäftigt gewesen sein und nebenbei auch "freie Arbeiten" für andere Aufraggeber übernommen haben.
ERGO SUM VIA, VERITAS ET VITA - Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
(Zitat aus Johannes-Evangelium Kapitel 14, Vers 6)
FECIT MIHI MAGNA QUI POTENS EST - Denn der Mächtige hat Großes an mir getan. (Zitat aus Lukas-Evangelium Kap 1, Vers 49)
Ritzsignatur des Modelleurs P(ieter) Goret unten links auf dem Bronzerelief mit der Mariendarstellung. Auf dem korrespondierendem Bronzerelief mit der Chris-tusdarstellung ist die Ritzsignatur offensichtlich wegge-schliffen worden.
Dafür ist dort die Jahreszahl 1628 im umlaufenden
Schriftkranz (rechts unten) erkennbar. Die beiden
Bronzereliefs befinden sich - (wohl) als Schenkung eines amerikanischen Sammlers - in der Mittelalter-Sammlung des Country Museums of Art in Los Angeles.
Die Ähnlichkeit der Portraitdarstellungen auf den Bronzereliefs von P. Goret und den
beiden Messingblech-Paneelen ist unübersehbar. Da zudem die Abmaße in Höhe und Breite der Figuren auf den Bronzereliefs nahezu identisch mit den auskragenden Zentralmotiven der Messingblech-Paneele sind, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass von den beiden Bronzereliefs Bleiabgüsse gezogen wurden, die im weiteren dem Modelleur der Blechpaneele als Negativ-Werkzeuge zum Austreiben der dünnen Messingbleche gedienten haben. Im direkten Vergleich fallen jedoch kleinere Unterschiede zwischen den Bronzereliefs und den Messing-Blechpaneelen auf. Diese sind zum einen durch die verschiedenen Materialfor-mungsverfahren erklärbar: Heißflüssiger (Bronze-) Formguß in festen Formen ist feiner und detaillierter als gedengelte und getriebene Hammerbearbeitung von Blechen. Zum anderen bedarf es bei einer professionellen künstlerischen Blech-bearbeitung in aller Regel einer Gegenformung von Innen- und Außenseite. Diese ist exakt aber nur möglich, wenn Bleche (mechanisch) durch zwei fast identische Positiv-Negativ-Formschalen eingepresst und "in Form" gebracht werden (Pressformung). In der Regel werden bei manueller (nicht bei mechanisch-indus-trieller) Blechformung die Gegenformung von Innen- und Außenseite aber nach-einander vorgenommen. Hierdurch entstehen zwangsläufig Unterschiede: Vorher auskragende Teile werden wieder "flachgeklopft", Vertiefungen gerundet, gekrümmte Flächen begradigt, Beulen gekantet etc. Häufig liegt gerade in der individuellen Beeinflussungsmöglichkeit der Form durch Gegenformung der besondere Reiz künstlerischer Blechbearbeitung. Unikate lassen sich kaum vermeiden!
Altersbestimmung
Eine exakte Angabe darüber, in welchen Jahr die beiden Messingblech-Paneele angefertigt wurden, ist leider aufgrund der fehlenden Zuschreibung der beiden
Werke auf einen konkreten Künstler nicht auf direktem Wege möglich. Normaler-
weise ergibt sich aus der Künstlervita und der Rekonstruktion des zugehörigen Künstlerwerkverzeichnisses ein Hinweis auf das Entwurfs- bzw. Ausführungsdatum eines Werkes. Dies ist hier nicht gegeben, da der Künstler bzw. der Kunsthandwerker
namentlich nicht bekannt ist. Zur Zeit gibt es nur eine vage Vermutung, dass es sich um den flämischen Skupteur P(ieter) Goret handeln könnte, der nachweislich die Bronzereliefs modelliert hat, die mit hoher Wahrscheinlichkeit als Gestaltungsvor-
lagen für die beiden Messingblech-Paneele dienten (Diese Annahme wird allerdings zur Zeit durch keine weiteren Indizien gestüzt). Somit bleibt zur Altersbestimmung nur die Motiv- bzw. Gestaltungsstilzuordnung, deren Ergebnisse zusammengefaßt
im Abschnitt: Gestaltungsvorlagen dargestellt sind. Zudem existieren einige sekundärer Indizien, die Hinweise auf den Gestehungszeitpunkt geben können. In diesem Fall kann eventuell die Art und der Zustand der Bildträger weitere Hinweise liefern.
Bildträger
Die beiden Messingbleche sind mittels kurzer Messingstifte auf offensichtlich alten,
10 mm dicken Holzplatten befestigt. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um mas-sives Wallnussholz, das bis ins 17. Jahrhundert für die Bildträger in der europäischen Tafelmalerei unter anderem von Malern wie Giotto, Raffael, Dürer, Cranach, Rubens und Rembrandt benutzt wurde. Vermutlich waren die verfügbaren Bestände zum damaligen Zeitpunkt (30-jähriger Krieg) relativ knapp, da an beiden Bildträgern einseitig (seitlich und unten) zusätzliche Holzleisten zur Vergrößerung der Bildträger-fläche angeleimt und verstiftet wurden. Um eine ebene Rückseite als Vorrausetzung für ein planes Einfügen der Messingblech-Paneele in eine vorbereitete Kassetten-(tür)konstruktion zu erhalten, wurden die angeflanschten Leisten nachträglich mit einem Holzhobel geebnet und entsprechend angepaßt. Der Holzträger selbst befindet sich in einem konservatorisch schwierigen Zustand. Wohl durch klimatische Einflüsse bedingt, haben sich Spannungen zwischen dem Messingmetallblech und dem Holz-untergrund aufgebaut, die zu einer leichten Wölbung des Brettes sowie zu einer partiellen Öffnung der Leimfugen an den seitlich angeflanschten Leistenteilen geführt hat. Zudem sind beide Bildträger zu einem früheren Zeitpunkt einmal von "Holz-würmern" (Larven des gemeinen Hausbock-Käfers = Hylotrupes bajulus) befallen gewesen. Deren Aktivitäten sind - vermutlich durch das Auftragen/Tränken in einer
speziellen Beize) vor längerer Zeit bereits gestoppt worden. Substanzielle Schädi-gungen im Holz (durch irreparablen, innerer Ausfraß) sind offensichtlich noch nicht eingetreten. Eine Restaurierung der Bildträger wird zum derzeitigen Zeitpunkt nicht empfohlen, zumal die Messingblech-Paneele aktuell als separierte Einzelbildwerke vorliegen. Die "Altersspuren" sind tolerierbar.
Motivpaneel mit Christusdarstellung
Abb.: oben links: Messingblech-Oberfläche; mitte: Bildträger (Rückseite); rechts: Detailausschnitt: angeflanschte Holzleiste und Wurmlöcher durch früherer Holzwurmbefall
Abb: unten links: Abknickung durch geöffnete Leimfuge; unten mitte: Brettwölbung durch Spannungsverzug; unten rechts: Leimreste auf den Stirnseiten (wohl von einer früheren Einpassung des Paneels in einer Kassetten(tür)konstruktion
Motivpaneel mit Mariendarstellung
Abb. links: Messingblech-Oberfläche; mitte: Bildträger (Rückseite); rechts: Detailausschnitt
der unteren und seitlichen Leistenanflanschung + Wurmlöcher durch früheren Holzwurmbefall; (Zur Vergrößerung bitte in die Abbildungen klicken).
Zusammenfassung Rechercheergebisse
Trotz längerer Bemühungen ist es bisher nicht gelungen, den Namen des Künst-
lers oder des Kunsthandwerkers ausfindig zu machen, der die beiden Messingblech-paneele angefertigt hat. Er war, das darf festgestellt werden, mit Sicherheit ein er-
fahrener Meister seines Faches. Auch die Recherchen nach einem Kirchen- oder Klosterbau, in dem die heute separat vorliegenden Paneele - wahrscheinlich in einer Türkonstruktion oder etwas ähnlichem - verbaut waren, hat bisher zu keinen belast-baren Ergebnissen geführt.
Als stilistische Gestaltungsvorlagen konnten die im Volk damals sehr beliebten Wallfahrtsmedaillen und Pilgeranhänger des frühen 17 Jahrhunderts identifiziert werden, die das von den Renaissance-Künstlern damals stark beeinflusste neue Christus- und Marienbild wiedergaben: Jesus dargestellt als schöner, junger Mann mit Bart und langwallendem Haar; Maria dargestellt als zeitgenössische Nonne und unbefleckte Braut Gottes. Genau diese Motivauffassung liegt auch den beiden Messingblechpaneelen zugrunde. Auch die Verwendung anderer typischer ikonografischer Elemente wie die lateinische Beschriftung der Paneele mit Kapitel- und Verstext-Zitaten aus dem Hohelied Salomos in der im Mittelalter ver-bindlichen lateinischen Bibelübersetzung (= Vulgata) deuten auf eine Gestehungszeit der Messingblechpaneele zwischen 1625 und 1630 hin. Mit hoher Wahrscheinlichkeit
dienten Bleiabgüsse der motivgleichen Bronzereliefs des flämischen Skulpteurs P(ieter) Goret als Negativformen und Schlagklötze für das Austreiben der Messing-bleche. Diese Bronzereliefs wurden laut Gußmarke erstmals (?) im Jahr 1628 gegossen. Auch das Material und der Zustand der beiden hölzernen Bildträger, auf denen die beiden meisterlich ausgeformten Messingbleche montiert sind, spricht für ein Alter von rund 400 Jahren. Damals wütete noch der 30-jährige Krieg (1618-
1648) im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation", in dessen Folge auch der Klerus aus pekuniären Gründen darauf angewiesen war, Aufträge zur Ausstattung von Kirchen und Klöstern nicht mehr in Edelmetall (Gold und Silber), sondern in äußerlich gleich prachtvollen Ersatzmaterialien (polierte Messing- und Kupferbleche) ausführen zu lassen.
Aufgearbeitete und neu gerahmte Motivpaneele: links Christusportrait,
rechts Marienportrait, Rahmenberatung: Frau Regine Picht,Firma Bösner, Köln
(Zur Vergrößerung bitte in die Abbildungen klicken)
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