G 7.6.1 "Lindner" Unternehmens- und Markenhistorie
Firmenchronologie
1928 Ernst Lindner gründet eine Porzellan-
fabrik in Küps bei Kronach und läßt
diese unter seinem Namen Lindner
Porzellanfabrik Küps eintragen. Ernst
Lindner ist kein Branchenfremder. Vor-
her hatte er als Direktionsassistent bei
der in Küps alteingesessenen
Porzellanfabrik Edelstein gearbei-
tet, die zu diesem Zeitpunkt bereits
rund 600 Mitarbeiter zählte und über
ein breitgefächertes Angebotspro-
gramm mit internationaler Verbreitung
auch und vor allem in die englisch-amerikanischen Märkte verfügte. Die
Firma Edelstein gehörte dem jüdischen Glas- und Porzellangroßhändler Julius
Edelstein (1882-1941) und seinem Kompangnon Isidor Grünebaum. Sie
hatten 1919 die Oberfränkische Porzellanfabrik in Küps übernommen,
zielstrebig ausgebaut und 1923 zu einer Aktiengesellschaft mit Verwaltungs-
und Vertriebssitz in Berlin gemacht.
Ernst Lindner verlor seine Direktionsstelle bei Edelstein infolge eines Lungen-
leidens, das - wohl nur unzureichend therapiert - zur operativen Entfernung
eines Lungenflügels - und damit zu einer dauerhaften Schwerbehinderung
führte. Im Zuge des einbrechenden Umsatzes während der Weltwirtschafts-
krise wurde ihm gekündigt. (Wohl) im Ausgleich erhielt er aber das Recht,
dauerhaft Weißporzellan zweiter Güte über Edelstein zu beziehen und die
Scherben auf eigene Rechnung und unter eigenem Markennamen - Lindner
Porzellan - zu dekorieren. Die finalen Glasur- und Einbrennprozesse fanden
anfänglich noch bei Edelstein statt. Lindner Porzellan machte sich zunächst als
reiner Porzellanveredelungsbetrieb einen Namen und wurde in der Folgezeit
vor allem wegen seiner strahlend kobaldblauen Farbglasuren bekannt, die in
ihrer Intensität zum damaligen Zeitpunkt von keiner anderen Porzellanfirma
in vergleichbarer Qualität hergestellt wurden. Mit zunehmendem Erfolg seiner
Dessins investierte Ernst Lindner in eigene Brennöfen und baute nach und
nach auch eine eigene Entwurfs- und Modellabteilung für Porzellanobjekte in
Küps auf.
Abb.: 3-beinige Lindner-Deckeldose "Chrysantheme" (frühes Vorkriegsmodell)
Cobaltblaue Außenglasur, innen weiß, Dekor: handgemalt in Echtgold
(Poliergold). Sammlung: Michael Hümmer, Sammlungsnr.: G7.6 2018.010
1934 Infolge des Börsenkrachs 1929 und der anschließenden Weltwirtschaftskrise
ging die Porzellanfabrik Edelstein 1934 durch einen von dem Börsenspeku-
lanten Otto Zehe erzwungenen Konkurs in die Hände der Colditz Stein-
gutwerke AG über, die - mit Unterstützung des von ihr eingesetzten neuen
Betriebsleiters Fritz Greiner (1903-1974) - die früheren Eigner der Porzellan-
fabrik Edelstein komplett aus dem Geschäft drängte.
Fritz Greiner war NSDAP-Mitglied und gehörte der paramilitärisch organi-
sierten NSKK an. Julius Edelstein und seine Frau Margaretha wurden - mehr
oder minder pro-forma - abgefunden, im Zuge der Judenverfolgung dann
aber 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet.
In der Ära Colditz wurde das Edelstein-Produktionsprogramm "verdünnt"
und - deutlich geschmackskonservativer - auf den (groß-)deutschen Binnen-
markt ausgerichtet. Als neues Geschäftsfeld stellte man nun sogenanntes
"Wehrmachtsporzellan" sowie Kantinengeschirr für industrielle Massen-
abnehmer her.
In dieser Phase gelang es Ernst Lindner, sich einen Großteil der "alten"
Edelstein-Porzellanformen zu sichern. Er übernahm die Formen ins
eigene Depot und produzierte die von Colditz aufgegeben Exportserien unter
eigener Marke und Namen weiter. Insofern ist es auch verständlich, warum
Lindner Porzellan anfänglich form- und gestaltidentische Modelle auslieferte,
die sich nur in unbedeutenden Dekordetails sowie in der Farbgebung und
der Bemalung von früheren Edelstein-Porzellanprodukten unterschieden.
1950 Dr. Hans Lindner, der älteste Sohn von Ernst Lindner, tritt als Vertriebsleiter
in die Fußstapfen seines Vaters. Er hat Betriebswirtschaft studiert und mit ei-
ner Arbeit über die Effizienz von Wirtschaftsfördermaßnahmen für mittel-
ständische Unternehmen in den verschiedenen ehemaligen Besatzungszonen
promoviert.
Unter seiner fachkundigen Leitung floriert das Unternehmen. Lindner beteiligt
sich an internationalen Messen, baut ein Auslandsvertreternetz auf, kurbelt
den Export an und vertreibt schließlich die Lindner-Produktpalette weltweit in
über 80 Länder.
1951 Sein jüngerer Bruder Ludwig Lindner - ein studierter Keramtechniker - tritt
dem Unternehmen als Produktionsleiter bei. Er zeichnet für die Produktions-
abläufe, die technische Produktentwicklung und das Unternehmensdesign
verantwortlich. Zu diesem Zeitpunkt produziert die Porzellanfabrik Lindner
überwiegend Ess-Service und Geschenkartikel, die bei Kunden vor allem
durch die manuell sehr fein ausgemalten Dekore beliebt sind. Bedingt durch
die angespannte, durch eine "strenge" zentrale Planwirtschaft geprägte Le-
bens- und Versorgungssituation in der DDR, die letzendlich zu Unruhen und
dem gescheiterten Volksaufstand von 1956 führte, wechselten viele gut
ausgebildete Porzellanfacharbeiter aus der "Sowjetzone" in den Westen und
nahmen ihr spezifisches Knowhow und ihre Erfahrungen mit. Ludwig Lindner
bot einigen von ihnen in Küps - nahe der Zonengrenze - Arbeit und ein neues
Zuhause.
1956 In den folgenden Jahren bringt Lindner Porzellan eine Reihe erfolgreicher
neuer Ess-Service heraus, die vom Thüringer und Sächsischen Designstil
geprägt sind, den die neu gewonnenen Mitarbeiter (u.a. aus Meißen) "mit-
brachten" . Vor allem die Service "Anna Maria" und "Marie-Luise" wer-
den zu Umsatzgaranten. Die Gebrüder Hans und Ludwig Lindner geben auf
diese Reihen eine lebenslange Nachkaufgarantie, was die Firma dazu
zwingt, alle ihre Porzellanformen ständig verfügbar zu halten.
Verschärfter Wettbewerb
Nahezu alle deutschen Porzellanfirmen sehen sich Ende der 50-er/Anfang der
60-er Jahre mit einem strukturell veränderten Marktumfeld im "Wirtschafts-
wunderland (West-)Deutschland" konfrontiert. Der Wettbewerb um die Gunst
der Käufer wird härter. Auch der mentale Kulturwandel vom "Käufer zum
(Porzellan)-Verbraucher" macht sich im Kaufverhalten bemerkbar. Einige
Firmen wie Rosenthal, Hutschenreuther und andere reagieren darauf mit
neuen Produktprogrammen und neuen Marktstrategien. Sie suchen eine
käuferseitige "Wert-Verankerung" ihrer Produkte durch neues künstlerisch-
skulpturales Design, durch neue Materialkombinationen oder durch exklusive,
limitierte Unikatproduktionen.
Auch die Gebrüder Lindner wagen etwas Neues. Neben ihren traditionellen
Service-Reihen bringen sie eine Linie ungewöhnlicher, weil völlig asymmetri-
scher Porzellanobjekte- meist in Vasen- oder Karaffenform - heraus. Zudem
bieten sie eine ebenso ungewöhnliche Schwarz-Weiß-Dekorlinie auf ihren
asymmetrischen Porzellanobjekten an.
Lindner Porzellan der 50-er Jahre:
obere Reihe: asymmetrisch-geschwungene Formgestaltung im "Bavaria-Look"
(hartglasiert, elfenbeinweiß mit Poliergold-Konturierung)
untere Reihe: ungewöhnliche Dekorbemalung (Schwarz-Weiß-Dekorlinie)
Das Design vieler Objekte stammt aus der Hand des Porzellanmodelleurs
Horst Spranger, der - wie berichtet wird - "kongenial" mit seinem Freund
und Chef Ludwig Lindner zusammenarbeitet. Beiden gelingt es Mitte der 50-er
Jahren, der nur ein Jahrzehnt dauernden Stilrichtung des "deutschen
Nierentisch-Designs" eine adäquate stilreine Umsetzung im Bereich des
Porzellandesigns zu geben. Die Entwürfe von Ludwig Lindner und Horst
Spranger werden später von einer Vielzahl von Porzellanmodelleuren in
anderen Firmen aufgenommen und kopiert. Insofern sind die asymmetrischen
Lindner-Objekte bereits zu gesuchten Sammlerstücken - exemplarisch für die
Zeitströmung - geworden.
Über Horst Spranger und sein Oeuvre ist aktuell wenig bekannt. Er dürfte
wohl 1931/32 geboren sein, machte eine "Porzellanerlehre" und besuchte an-
schließend die Porzellanfachschule in Selb. 1954 verläßt er die Schule als
Absolvent ("geprüfter Porzellanmodelleur"). Seine ersten Meriten als Por-
zellanmodelleur verdient er sich bei der Firma Rosenthal in Selb (unbestätigt).
Noch vor 1964 tritt er in die Dienste der Porzellanfabrik Lindner in Küps.
Ludwig Lindner und Horst Spranger sprechen "stilistisch" die gleiche Sprache.
Sie verstehen sich. Ihre Entwürfe ergänzen sich.
Erfolg macht neidisch. Die Rosenthal AG klagt gegen Lindner wegen gra-
vierender Urheberrechtsverletzungen. Der Streit eskaliert und muß über
mehrere Instanzen gerichtlich geklärt werden. Rosenthal beansprucht das
Recht zur "Asymmetrischen Porzellangestaltung" als stilistisches Merkmal
alleinig für sich. Andere Firmen - so ihr Standpunkt - produzierten letzt-
endlich nur Rosenthal-Produktplagiate und "billige Kopien". Rosenthal
argumentiert mit einem asymmetrischen Vasenentwurf von Fritz Heidenreich,
der - 1952 für Rosenthal gestaltet - als "schwangere Luise" bekannt gewor-
den war. Zudem führt sie in ihrer Klageschrift das Design mehrerer Orchi-
deenvasen an, die ebenfalls asymmetrisch gestaltet sind und wegen ihres
Verkaufserfolges schnell Nachahmer gefunden haben.
Nachfolgend überzieht Rosenthal die Lindner-Porzellanfabrik mit einer Flut
von Urheberrechts- und Verkaufsunterlassungsklagen und drohte auch
anderen Unternehmen, die ebenfalls asymmetrische Entwürfe produzieren
wollen, kostspielige Prozeßauseinandersetzungen an. Die meisten Firmen
sehen sich existenziell bedroht, da sie befürchten, wegen der hohen Prozeß-
kosten finanziell nicht mithalten zu können und ziehen vorsichtshalber ihre
diesbezüglichen Produkte vom Markt zurück.
Einzig Ludwig Lindner hält dagegen. Nach fünfjähriger Prozeßdauer und
mehreren Revisionsanträgen urteilt der Bundesgerichtshof im Dezember
1958 in letzter Instanz, dass das Prinzip der "Asymmetrie" für sich nicht
urheberrechtlich für ein Untenehmen geschützt werden könne, weil es als
ein grundlegendes allgemeines Gestaltungsprinzip der Kunst gelte und viele
individuelle Formen und Varianten einer kreativen Gestaltung erst ermög-
liche. Zudem sei Ludwig Lindner kein billiger Kopist und so sei ihm aufgrund
seiner Ausbildung an der Porzellanfachschule ein "ehrliches Bemühen um
die Gewinnung moderner (Porzellan-)Formen" zu unterstellen.
Ein Sieg auf ganzer Linie. Allerdings etwas spät, da "der Zug zu einer
größeren Verbreiterung des asymmetrischen Produktdesigns zu diesem
Zeitpunkt bereits abgefahren ist" und dieser Designstil in Deutschland
durch das Wiederaufleben des Bauhaus-Gedankens (Ulmer Schule) bzw.
international durch das Aufkommen der Pop- und OP-Art stilistisch sub-
stituiert wurde.
1977 Dr. Hans Lindner verliert bei einem Autounfall sein Leben. Werner Gossel
tritt 1979 seine Nachfolge als Kaufmännischer Leiter der Firma Lindner an.
In den Folgejahren hat Lindner Porzellan - wie auch die anderen mitttel-
ständischen Firmen der Branche - mit massiven Veränderungen im Pub-
likumsgeschmack und im Käuferverhalten zu kämpfen. Das frühere "feine
Sonntags- und Gästebewirtungsgeschirr" in dessen weiteren Ausbau häufig
generationenübergreifend investiert (und das dann auch entsprechend
generationenübergreifend vererbt) wurde, muss nach und nach billigerem,
"spülmaschinengeeignetem" Alltagsgeschirr weichen. Zudem wirkt sich auch
die zunehmende Anzahl von Single-Haushalten auf die Programmbreite des
Angebots aus. In letzter Konsequenz steht - mit wenigen Ausnahmen - heute
die gesamte deutsche Porzellanindustrie vor dem Aus, da massenhafte Billig-
importe aus asiatischen Ländern in's Land drängen und auch die Vertriebs-
wege und das Kaufverhalten der Kunden durch Online-Shops und individuelle
Lieferzustellung bis an die Haustür massiv verändert werden.
Ende der 80-er /Anfang der 90-er Jahre wird auch die Situation für die Firma
Lindner Porzellan kritisch. Das Unternehmen steht vor der Auflösung.
1990 In einem Management-Bay-Out übernimmt der bisherige kaufmännische Leiter
Werner Gossel, der den Betrieb seit 1979 kennt, die Firma. Zusammen mit
seinem Sohn Walter Gossel reorganisiert er das Traditionsunternehmen,
kauft vorsichtig aus anderen Insolvenzmassen (Gerold Porzellanfabrik Tettau,
Porzellanmanufaktur Royal, Küps) deren meist kleinteilige Formen auf und
passt die eigenen Produktionsbedingungen flexibel an eine individuelle Auf-
trags-, Lohn- und Einzelfertigung an. Das Unternehmen übernimmt heute mit
seinen aktuell rund 20 (kunst-)handwerklich hochspezialisierten Mitarbeitern
unter anderem Lohn- und Zulieferaufträge für andere Porzellanfirmen sowie
Musterfertigungen für externe Fremd-Designer. Daneben entwickelt es jährlich
eigene Messeneuheiten.
Im Fundus und den Depots der Firma befinden sich - und darin besteht der
eigentliche Schatz des Unternehmens - über 30.000 - teilweise bereits histo-
rische - Porzellanproduktionsformen aus allen ehemaligen Produktionszyklen.
Für Sammler interessant: 400 verschiedene Fingerhüte, 150 verschiedene
Spardosen, 70 verschiedene Tropfenfänger. Nicht weniger interessant:
Die Modelle, die Lindner Porzellan für verschiedene Bauhaus-Künstler und die
Bauhaus-Werkstätten fertigte. Viele von ihnen werden heute originalgetreu
für Einzelrestaurierungen nachgefertigt oder dienen - im Einzelauftrag ge-
fertigt - als Ausstellungsrepliken für private und museale Bauhaus-Samm-
lungen.
Redaktionsstand: 12/2019
Markenhistorie
Markenzeichen der Firma Lindner in verschiedenen Ausführungen
(ohne Anspruch auf Vollständigkeit!) Eine konkrete (Produktions-)Jahreszuweisung oder eine Zuweisung zu bestimmten Modellreihen kann zur Zeit noch nicht endgül-
tig vorgenommen werden. Die Recherchen dauern noch an.
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